Bevor Alles Verschwindet
Davids Welt auf den Kopf und alle Beschlüsse in Frage zu stellen. Er rennt los, die Plastikplane weht hinter ihm wie ein Umhang, in vier Schritten ist er beim Laster, reißt die Tür zur Fahrerkabine auf, klettert hinauf und stützt sich dabei mit dem schlimmen Arm ab, spürt nichts. Er sitzt neben Milo, er sagt »Da bin ich«, und Milo nickt, und Milo strahlt, und Milo sagt:
»Endlich.«
David windet sich aus der Plastikplane, so bekommt er die Tür nicht zu, ungeduldig tritt er die Plane hinaus, schließt den Laster kurz, es klappt gleich beim ersten Mal und fühlt sich an, als wäre es das, was er von nun an tun sollte, auch ohne Führerschein und ganz ohne kriminelle Energie. Sie werden ans Meer fahren, an den nächstbesten Ozean und an den übernächsten und an den danach, sie werden Berge überqueren mit dem Haus, wie in diesem Film. Es wird genauso sein, aber bequemer. Sie ziehen kein Schiff, sondern ein Zuhause, sie ha
ben den Laster und sie könnten jederzeit anhalten und einziehen, wenn David nicht die ganze Welt bereisen wollen würde. Mit beiden Händen greift er das Lenkrad, fest, es tut nicht weh, und dann tritt er das Gaspedal durch, und dann machen sie sich auf den Weg. Es funktioniert, tatsächlich, es klappt, er kann fahren, er macht alles richtig. Und vielleicht, denkt David und sieht auf den Platz neben sich, vielleicht gibt es jemanden wie Milo wirklich irgendwo.
Der Motor heult auf wie ein geschlagener Drache. Der Transporter rollt los, im Schritttempo steuert er auf die Gruppe zu. Die Verantwortlichen starren den Bürgermeistersohn an, was ist denn in den gefahren und was macht er denn da im Laster, auf dem das kleine Haus mit dem schönen Giebel, seit Tagen bereit für den Abtransport, steht. Das soll weg, und zwar heute noch. Jetzt rollt es an dem ersten Gelbhelm vorbei, überholt das für die Translokation abgesandte Pärchen, und nur Wacho versteht, was hier geschieht, dass ihm David davonläuft.
»Nein«, sagt Wacho leise. »Bitte nicht.«
Der Laster lässt sich nicht aufhalten, nicht von Wacho, der ein paar müde Schritte hinter dem Wagen herläuft, im Blick immer das Bild des Bürgermeistersohnes, die Leinwand flattert im Fahrtwind, das Porträt winkt ihm armlos zu. Wacho, ein viel zu später Don Quixote, der nicht einmal selbst an seinen Glauben glaubt, der bald stehen bleibt, weil er weiß, dass all das Rennen nichts hilft. Die Gelbhelme starren fassungslos, die verantwortliche Frau spricht aufgeregt in ihr Funkgerät:
»Ihr müsst ihn aufhalten, wir brauchen eine Straßensperre, vielleicht einen Hubschrauber.« Wacho lauscht eine Weile stumm ihren Funksprüchen, dann nimmt er sanft ihre Hand, die das Funkgerät hält.
»Lassen Sie das«, sagt Wacho ruhig. »Lassen Sie ihn, er bringt das Haus nur in Sicherheit.« Die Frau schüttelt den
Kopf, Herr Abend tut es ihr gleich, jetzt folgen ganz sicher die griechischen Klagelaute. Aber sie klagen nicht und sie laufen nicht, sie machen nichts, um David von seinem Weg abzubringen. Sie stehen nur da und sehen dem Laster hinterher, der eine nicht mehr sichtbare Straße entlang aus dem verschwundenen Ort hinausrollt und bald in der Landschaft versinkt.
Auch als dann der Löwe zum Abschied brüllt, nach einem letzten Seufzer wieder und diesmal für immer versteinert, sagt niemand etwas. Sie nehmen es hin, wie man Abschiede hinnimmt und Weltuntergänge und die Abendnachrichten und alles andere.
»Tja«, sagt Herr Abend und: »Das findet sich schon.« Dann sieht er Wacho aufmunternd an und schlägt ihm vor, oben auf der Mauer ein Bier zu trinken, vielleicht einen Sekt. »Flussaufwärts ahoi«, sagt Wacho, und dann gehen sie, und Martin Wacholder, Bürgermeister a. D., verlässt als Letzter das zu versenkende Schiff.
»Jetzt aber«, sagt Janno und springt auf, zieht Anton mit seinen Schlangenarmen auf die Beine. Anton wäre lieber sitzen geblieben, weiß aber, dass sich das nicht gehört. Jetzt kommt die Flutung und eigentlich fehlt ihm ein Hut, den er vor die Brust halten kann. So fühlt Anton sich, wie ein Mann, der seiner Traurigkeit mit Hilfe eines Hutes Ausdruck geben muss, weil sich die Traurigkeit förmlich anfühlt und fremd. An der Mauer ist der rote Abdruck einer Hand, als Anton dem Freund das sagen will, kommt kein Ton heraus.
»Wir stellen uns gleich vorne hin, da können wir schnell weg, wenn es vorbei ist«, sagt Janno. Anton folgt dem Freund, ihm ist es egal, wo sie stehen. Er würde gern Jula anrufen, aber sein Handy
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