Bevor Alles Verschwindet
reicht«, sagt der Bauleiter. »Hier ist er nicht. Wir müssen anderswo nach ihm suchen. Jetzt sind es wirklich nur noch achtundzwanzig Minuten.«
»Na, da ist er doch«, sagt der Verantwortliche und zeigt zum Transporter hinüber. »Da steht ein junger Mann, eingewickelt in eine Plastikplane, aber ansonsten passt die Beschreibung.«
»David«, brüllt Wacho, er stolpert die Böschung hinauf, beim Hochklettern reißt er Disteln aus und wirft sie im hohen Bogen hinter sich in den Fluss. Auf die helmlosen Gelbhelme regnet es stachlige Blumen. »Warte, wehe, du läufst weg«, brüllt Wacho, und die Männer am Fluss beobachten, wie er den Kerl, der anscheinend tatsächlich dieser David ist, in die Arme schließt und dreimal um sich herumschleudert. Sie hören, wie David beim Fliegen leise knistert.
»Schön«, sagt der Bauleiter, »dann haben wir jetzt noch genau siebenundzwanzig Minuten, um uns umzuziehen und zurück auf die Mauer zu kommen. Ach ja, und dieses dämliche Spielzelt muss weg. Passt mir auf die beiden auf, noch einmal mache ich eine derartige Aktion nicht mit, dann wird geflutet, egal, was ist.« Er macht sich auf den Weg zurück zum Staudamm. Natürlich würde er gegebenenfalls nicht fluten, von wegen egal was ist.
Er ist ein anständiger Kerl, der seine Rosen blattlausfrei hält und mit dem Hund jeden Abend durch die Feldmark hinterm Haus lange Spaziergänge macht. Aber er ist der Bauleiter und nicht nur das, er muss dafür sorgen, dass alles glatt läuft, und deshalb ist er erleichtert, als er sieht, wie der Chef mit drei Gelbhelmen hinübereilt zu Vater und Sohn.
»Für den letzten Weg als offizieller Bürgermeister eine Es
korte«, sagt der Oberverantwortliche und: »Das ist doch was.«
Wacho setzt David wieder ab. Ihm wird das Kreuz wehtun, aber erst morgen, jetzt ist er froh, David zurückzuhaben.
»Mach so etwas nie wieder«, flüstert Wacho David ins Ohr, und David verspricht, so etwas nie wieder zu machen, weil er sich tatsächlich sicher ist, dass so etwas nie wieder passieren wird, so ein Durcheinander aller Zeiten und er mittendrin und im Gespräch mit Ernst Mallnicht, Gretas verstorbenem Mann. Wacho reißt David noch einmal in die Luft, seine Knie knacken und irgendwas verschiebt sich in grober Richtung der Wirbelsäule, aber Wacho kümmert sich nicht, Wacho zeigt David, wie sehr er sich freut und wie wenig es eine Chance gibt für ihn zu entrinnen. Dieses Zusammensein ist für die Ewigkeit.
Die Gelbhelme und der Bauleiter sehen verlegen zu Boden, ein erwachsener Mann, der von seinem Vater durch die Luft geworfen wird, ist nichts, was sie unbedingt mitansehen wollen. Zumal David selbst nicht so wirkt, als hätte er den Flug genossen, er reibt seinen Arm und sieht an Wacho vorbei zur Staumauer hoch, den Besuchern, die dort wie im Amphitheater stehen und Augen machen, als erwarteten sie eine tragisch verfrühte Öffnung der Mauer.
»Jetzt aber los«, ruft Wacho. Da weht nichts mehr durch die Luft, da greift nur der eine den anderen am Arm, um ihn mitzuziehen, und der Verantwortliche macht sich auf den Weg hin zur Mauer, winkt seine Gelbhelme herbei, hier ist alles wieder unter Kontrolle.
»Es geht weiter«, sagt Wacho zu David, und David nickt. Als sie am Transporter vorbeigehen, schaut David durch die Scheibe, da sitzt immer noch Milo. Zwei Menschen kommen auf sie zu, eine Frau im Kostüm, ein Mann im üblichen blauen Anzug, David kennt sie, das ist doch dieser Herr Abend. Ja, es sind die beiden Verantwortlichen aus dem Frühling, die sich
vor gar nicht so langer Zeit auf Milos und seinem ersten gemeinsamen Möbelstück, auf dem Gurkeneimer, niedergelassen haben, um ihnen den Abbau des Hauses als Glück zu verkaufen. Aus dem Augenwinkel nimmt David eine Bewegung wahr, Milo rührt sich, er ist aufgewacht. David nickt ihm zu, mehr nicht, er bleibt hart. Wahrscheinlich steckt Milo tatsächlich mit all diesen Verantwortlichen unter einer Decke. David wird genügend Zeit haben, darüber nachzudenken, auf welche Weise Milo einer von denen ist, und daher jetzt kein Grund zur Trauer und niemand zum Vermissen.
David hört, wie Menschen, die sich kaum kennen, einander grüßen, selbst seinem Vater rutscht ein Guten Tag heraus. David sieht alles in Zeitlupe, sieht, wie die verantwortliche Frau hastig ihre Bluse zurechtzieht, wie Herr Abend neben ihr stolpert, wie Milo das Fenster herunterkurbelt. Und dann hört er ihn.
Milo ruft Davids Namen, nur seinen Namen, nicht mehr, aber das reicht, um
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