Bevor der Abend kommt
überzeugend sie klang. Tom hatte Recht. Letztendlich hatte sie gar keine andere Wahl. »Danke«, sagte sie zu dem Beamten, bevor sie auflegte und die anderen ansah. »Er sagt, er wird die Detectives Bartolli und Gill informieren, und nimmt an, dass sie sich gleich morgen früh mit uns in Verbindung setzen.«
»Vielen Dank, Mom«, flüsterte Julia.
»Du hast das Richtige getan«, sagte Tom.
Cindy blickte zum Küchentisch und erwartete, im Blick ihrer Mutter zumindest die Andeutung eines Vorwurfs zu lesen, verkniffene Missbilligung in der Miene ihrer Schwester, einen Ausdruck der Enttäuschung in Heathers Gesicht. Doch alle drei Frauen bekundeten unter Tränen nickend ihre Zustimmung. Kein Bedürfnis zu verurteilen, wie Cindy erkannte, sondern nur Liebe.
Tom küsste Julia auf die Stirn. »Versuch, ein bisschen zu schlafen, meine Süße. Du willst doch morgen früh für die Reporter gut aussehen.« Er fasste den Keks am Ellbogen und führte sie in den Flur.
»Warte«, rief Cindy. Was tat sie da?
»Cindy, wir sind alle groggy. Kann das nicht bis morgen warten?«
»Julia kann nicht hier bleiben.« Sie hatte die Worte schon ausgesprochen, bevor sie den Gedanken zu Ende formuliert hatte.
»Was?« Tom blieb wie angewurzelt stehen.
»Was?«, fragte Julia wie sein Echo.
»Du kannst nicht hier bleiben«, sagte Cindy noch einmal, doch auch in der Wiederholung klangen die Worte nicht weniger fremd.
»Das verstehe ich nicht.«
Cindy atmete tief ein und langsam wieder aus, während sie das Gefühl hatte, dass ihr Herz platzen müsste. »Ich liebe dich, mein Schatz. Ich werde dich immer lieben. Das weißt du. Und es tut mir unendlich Leid.« Sie blickte von Julia zu Tom und zurück. »Ich kann bloß nicht länger mit jemandem zusammenleben, den ich eigentlich nicht mag.«
In Julias Augen standen unerwartete Tränen. Eilig senkte sie den Kopf, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel wie bei dem Casting für Michael Kinsolving.
(Fantasie: Julia hebt den Kopf, Tränen kullern über ihre Wangen. »Es tut mir so Leid«, sagt sie. »Bitte verzeih mir. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Ich verspreche, ich werde mich ändern. Ich verspreche, dass ab jetzt alles ganz anders wird.«)
Für ein paar Sekunden verharrte Julia in dieser Haltung, dann warf sie die Haare zurück, zuckte mit den Achseln und hob den Kopf. Als ihr Blick den ihrer Mutter traf, waren ihre Augen trocken. »Egal. Dann wohne ich eben bei Dad.«
Der Keks riss beunruhigt die Augen auf.
Konnte sie das wirklich tun, fragte Cindy sich. Konnte sie ihre Tochter wirklich wegschicken? Cindy spürte, wie ihr ganzer Körper zitterte, als ob er endlich die Tatsache verdauen musste, dass sie Julia schon vor langer Zeit verloren hatte.
Julia blieb reglos in der Mitte der Küche stehen, als wollte sie ihrer Mutter ein paar zusätzliche Sekunden Zeit lassen, ihre Meinung zu ändern. »Also gut. Wenn du es so willst. Komm, Elvis. Wir gehen zurück zu Dad.«
»Oh nein«, jaulte der Keks auf. »Ich lasse nicht zu, dass der räudige Köter wieder auf meine guten Teppiche pinkelt.«
»Komm, Elvis«, wiederholte Julia, als hätte der Keks nie etwas gesagt.
Elvis erhob sich von seinem Platz unter dem Küchentisch und trottete langsam zu Cindy. Dann bellte er dreimal laut und machte es sich auf ihren Füßen bequem.
»Na gut.« Julia verdrehte verzweifelt die Augen. »Dann bleib halt hier, wenn du willst.«
»Gott sei Dank«, murmelte der Keks.
»Halt die Klappe«, sagte Julia.
»Halt du selber die Klappe.«
»Bitte, meine Damen«, beschwor Tom sie und schob die beiden jungen Frauen durch die Tür, ohne sich noch einmal umzusehen.
Cindy folgte ihnen bis an die Tür, und ihr Blick begleitete sie die Straße hinunter. Sie beobachtete, wie Julia in den Wagen ihres Vaters stieg, bevor dieser losfuhr und an der Ecke in die Avenue Road bog.
»Alles in Ordnung?«, fragte Heather und trat neben sie.
Cindy nickte. »Alles okay«, sagte sie und merkte, dass das stimmte.
Vielleicht würde die Wunde in ihrem Herzen nie ganz verheilen, vielleicht würde ein Teil von ihr ein Leben lang hinter ihrer älteren Tochter her die Straße hinunterlaufen und sie anflehen wollen, nach Hause zurückzukommen. Aber dafür war
es zu spät. Sie war jetzt erwachsen. Ein erwachsener Mensch mit eigenem Willen und Verstand. Außerdem war sie Gott sei Dank gesund, kräftig und unversehrt. Ach was, sie war unzerstörbar.
Es waren die anderen gewesen, die in
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