Bevor der Abend kommt
Fall bremst. »Sie sollte einen Orden kriegen. Sie ist eine Heldin.«
Ich bin eine Heldin, denkt Cindy und hätte vielleicht sogar laut gelacht, wenn sich nicht Dunkelheit über sie gesenkt hätte.)
»Laut den Elf-Uhr-Nachrichten bin ich eine Heldin«, sagte Cindy jetzt zu Neil, der ihr eine frisch aufgebrühte Tasse Tee brachte. Er trug eine schwarze Khakihose und ein beigefarbenes Hemd, und Cindy fand, dass er der willkommenste Anblick war, den sie je gesehen hatte. Links und rechts neben ihr saßen ihre Mutter und ihre Schwester. Als Neil kam, stand Leigh auf und klemmte sich mit Heather, Meg und Trish auf das andere Sofa.
»Fühlst du dich nicht besonders heldenhaft?« Neil setzte sich neben sie und streichelte sanft ihren Nacken, während sie vorsichtig an dem Tee nippte. Elvis hielt die ganze Runde von seinem Platz auf dem Fußboden aus wachsam im Blick.
Cindy lächelte den gut aussehenden Mann an, der sofort zur Hilfe geeilt war, als Cindy das Bewusstsein wiedererlangte und ihn von einer Telefonzelle in der U-Bahn angerufen hatte. »Ich komme mir vor wie eine Betrügerin.«
»Wieso denn wie eine Betrügerin?«, fragte Meg.
»Weil ich gar nichts gemacht habe.«
»Du hast dem Baby das Leben gerettet«, erinnerte Trish sie.
» Faith hat es gerettet, nicht ich.«
»Nur deinetwegen sind sie jetzt nicht beide tot«, sagte Cindys Mutter.
Cindy schüttelte den Kopf. »Die ganze Sache ist meine Schuld.«
»Wie um alles in der Welt sollte es deine Schuld sein?«
»Weil ich diejenige bin, die sie an den Rand des Abgrunds getrieben hat«, sagte Cindy, die Worte aussprechend, die sie den ganzen Tag immer wieder heruntergeschluckt hatte. »Buchstäblich. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich sie selbst von der Bahnsteigkante gestoßen hätte.«
»Cindy …«
»Ich habe ihr die Affäre ihres Mannes mit Julia unter die Nase gerieben. Ich habe die Polizei alarmiert und dafür gesorgt, dass sie zur Vernehmung mit auf die Wache genommen wurde, obwohl sie vor Müdigkeit kaum stehen konnte. Ich wusste, wie labil sie war, ich wusste es, aber es hat mich nicht davon abgehalten, ihr alle möglichen albernen Beschuldigungen an den Kopf zu werfen, selbst nachdem die Polizei mich gewarnt hatte, mich herauszuhalten, selbst nachdem sie mir befohlen haben, ihre Ermittlungen nicht weiter zu stören. Und das kommt jetzt dabei heraus …«
»Cindy …«, sagte ihre Mutter.
»Bitte sag mir nicht, dass es nicht meine Schuld ist.«
»Diese Macht hast du nicht«, wiederholte Heather die gleichen Worte, die ihre Mutter in der Nacht zuvor ihr gesagt hatte.
Cindy lächelte traurig, als Heather in ihre ausgebreiteten Arme sank.
»Danke, dass du hier bist«, sagte sie und küsste Heather auf den Kopf. »Danke euch allen.«
»Wo sollten wir sonst sein?«, antworteten sie beinahe unisono.
Neil hatte sie von der U-Bahn nach Hause gefahren, wo Heather sie erwartet hatte. Ihre Mutter und ihre Schwester waren
direkt von einem Termin zu ihr gekommen, als sie die Nachricht gehört hatten, genauso wie vor einigen Stunden Meg und Trish. Nur Tom hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie anzurufen. Wahrscheinlich war er schon auf halbem Weg nach Muskoka, als die ersten Berichte gesendet wurden.
Normalerweise berichteten die Medien nicht über derartige Selbstmorde, um keine Nachahmungstäter zu ermutigen. Doch Cindys Anwesenheit am Ort des Geschehens hatte alles verändert. Die Tatsache, dass Julia Carvers Mutter entscheidend dazu beigetragen hatte, ein anderes Kind vor dem sicheren Tod zu retten, war der Aufmacher aller lokalen Nachrichten in Radio und Fernsehen. Seit dem frühen Nachmittag hatten Reporter angerufen oder geklingelt und über den möglichen Zusammenhang zwischen Julias Verschwinden und dem Selbstmord ihrer Nachbarin spekuliert. Cindy ahnte mit einem vernehmlichen Seufzen, dass die Geschichte morgen sämtliche Titelseiten beherrschen würde, vor allem, wenn die Presse Wind von Ryans Affäre mit ihrer Tochter bekam, was garantiert geschehen würde.
»Alles in Ordnung?«, fragte Neil.
»Ich hätte schneller begreifen sollen, was los war.«
»Dann wäre sie vielleicht früher gesprungen und hätte Kyle mit sich genommnen.«
Cindy blickte zur Tür. »Wird das Haus immer noch belagert?«
»Vor einer Stunde habe ich noch jemanden von CITY-TV in den Büschen herumlungern sehen, aber ich glaube, sie haben schließlich aufgegeben und sind nach Hause gefahren.«
»Was ist mit dir?«, fragte Cindy zögernd. »Musst du nicht nach
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