Bevor der Abend kommt
unangenehme Gefühl abzuschütteln, beobachtet zu werden.
33
Sie war fast eingeschlafen, als sie vor ihrem Schlafzimmerfenster ein Geräusch hörte. Cindy richtete sich vorsichtig im Bett auf, um die schlafende Heather nicht zu stören, zu deren Füßen Elvis eingerollt lag. Die nächtliche Stille wehte um ihren Kopf wie ein schweres Parfüm, als sie die Ohren spitzte und wartete. Und dann hörte sie es wieder, ein kurzes, hartes Ticken an der Scheibe. Und dann noch einmal.
Zunächst dachte Cindy, es wäre ein Vogel, der mit dem Schnabel gegen die Scheibe klopfte, um hereingelassen zu werden. Aber sie wusste, dass nachts keine Vögel unterwegs waren, deshalb stand sie auf, trat ans Fenster und spähte durch die Läden. Im selben Moment schlug etwas gegen die Scheibe. Cindy stockte der Atem, und sie schreckte mit pochendem Herzen zurück, weil sie überzeugt war, dass jemand auf sie geschossen hatte. Doch das Glas war nicht zerborsten, es war nicht einmal gesprungen. Vorsichtig trat sie wieder näher ans Fenster. Irgendetwas war von der Scheibe zurückgeprallt. Ein Steinchen, erkannte sie.
Irgendjemand warf Steinchen gegen ihr Fenster.
Cindy zog ihren Bademantel über, rannte die Treppe hinunter in die Küche und schaltete das Terrassenlicht auf der Rückseite des Hauses an.
In ihrem Garten stand ein vollkommen schwarz gekleideter Mann. Cindy unterdrückte einen Schrei, als der Mann den Kopf ins Licht wandte und sie einen vertrauten Ausdruck von Bestürzung auf seinem attraktiven Gesicht erkannte.
»Tom?!« Cindy schloss die Glasschiebetür auf und beobachtete,
wie ihr Ex-Mann eine Hand voll Kiesel zu Boden fallen ließ und die Stufen heraufgeeilt kam. Hinter ihm trat der Keks aus der Dunkelheit und folgte ihm. »Was machst du hier, um Himmels willen? Was soll das?«
»Ich habe versucht, deine Aufmerksamkeit zu erregen, verflucht noch mal. Warum bist du nicht an dein verdammtes Telefon gegangen?«
»Was?«
Sie traten in die Küche, und der Keks schloss die Tür. Tom schaltete das Terrassenlicht aus, sodass nur der Vollmond den Raum zwischen ihnen beleuchtete wie ein falsch platzierter Spot. »Was war denn hier heute Abend los? Eine Party?«
»Du hast das Haus beobachtet?«
»Ich muss mit dir reden. Und das konnte ich nicht, solange noch alle da waren.«
»Ich verstehe nicht. Ist irgendwas passiert?« Ein Gefühl namenloser Angst sickerte durch Cindys Körper wie eine Transfusion von infiziertem Blut. Sie spürte, wie ihr am ganzen Leib kalt wurde, als würde eine Hand aus dem Grab nach ihr greifen. »Hat es irgendetwas mit Julia zu tun?«
Tom fuhr sich durchs Haar. »Okay, hör zu. Mir ist klar, dass es ein Schock für dich sein wird, aber es ist äußerst wichtig, dass du ruhig bleibst. Ich verstehe, dass du einen höllischen Tag hinter dir hast, aber du musst mir versichern, dass du nicht ausflippst.«
»Ich denke, du sagst mir besser, was los ist.«
»Ich bin gekommen, um dich vorzubereiten.«
»Worauf willst du mich vorbereiten?«
Ein paar lange Sekunden sagte Tom gar nichts. Dann öffnete er die Schiebetür. »Okay«, sagte er in die Dunkelheit. »Du kannst jetzt reinkommen.«
Die Nachtluft regte sich, als sich in der Dunkelheit eine Gestalt abzuzeichnen begann, die sich schließlich ganz aus dem Schatten löste. Cindy hielt den Atem an, als sie sich vor ihren
Augen materialisierte und langsam die Stufen zur Veranda hinaufging, das Gesicht unter der Kapuze eines schwarzen Sweatshirts verborgen.
Und dann stand sie vor ihr in der Tür, die Kapuze fiel und entblößte langes, glattes, blondes Haar, das noch genauso unglaublich schön war wie beim letzten Mal, als Cindy sie vor zwei Wochen gesehen hatte.
Julia.
»Julia!« Cindy stürzte sich auf die Erscheinung, warf ein unsichtbares Netz über sie aus und umfing sie mit beiden Armen, bevor sie davonfliegen konnte, so als wäre sie auf einen seltenen Schmetterling gestoßen. Sie wusste, dass ihr Verstand ihr einen Streich spielte, dass die schrecklichen Ereignisse des Tages in Verbindung mit ihrer Erschöpfung das normale Muster ihrer Wahrnehmung so durcheinander gebracht hatten, dass sie nicht nur eine verlorene junge Frau sah, die sich aus ihrer Umarmung löste und sprang, sondern nun auch eine andere verlorene junge Frau, die wundersamerweise aufgetaucht war, um ihren Platz einzunehmen. »Julia«, stammelte sie, starrte auf die Erscheinung in ihrem schicken Jogging-Anzug aus schwarzem Samt und berührte ihr Gesicht, ihre Schultern
Weitere Kostenlose Bücher