Himmel der Suende
PROLOG
Die Zeit der Rache war endgültig gekommen. Doch das war, wie er sich immer wieder zu erinnern zwang, kein Grund zu hastiger und unüberlegter Eile. Er hatte Generationen, ja Jahrtausende geduldig auf diesen Moment gewartet und durfte nicht riskieren, die Dinge ausgerechnet jetzt zu überstürzen und damit zu verderben. Der nächtliche Dschungel um ihn herum verstummte - die Tiere darin spürten seine Nähe. Entweder ergriffen sie eilig die Flucht, oder sie duckten sich zitternd in ihre Verstecke im Unterholz oder den dicht ineinander verwachsenen Kronen der gewaltigen Ebenholzbäume und Mangroven. Selbst die Tiger, die Elefanten und die Wasserbüffel gingen in Deckung, und sogar die Krokodile zogen sich auf den Grund des vom Monsunregen angeschwollenen Tonle Sap zurück, um dort regungslos zu verharren. Sie alle wussten, wer der wahre Herr dieses tropischen Reiches war und dass seinen Weg zu kreuzen den sicheren Tod bedeutete.
Er sog die feuchte Luft durch die breite schwarze Nase seiner wahren Gestalt und fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr in all den vergangenen Äonen. Der Moment der Vergeltung war zum Greifen nah. Endlich standen seine Sterne wieder günstig. Wie in einem kosmischen Witz war es ausgerechnet Luzifer, vor der diese Welt zu beschützen und die zu bekämpfen er ursprünglich ausgesandt worden war, die ihm jetzt den Weg geebnet hatte. Aber sie konnte ja nicht damit rechnen, dass er noch lebte. Niemand tat das, und das war der Trumpf in seinem Ärmel - der Schlüssel zur absoluten Macht.
Die Tage des Versteckens waren gezählt. Nie wieder im Schlamm und tief unter die Erde kriechen. Nie wieder vor Angst erstarren beim Geräusch der über ihm hinwegfliegenden Söhne und Töchter der Himmel.
Nie wieder!
Ba’Al’T’Azar war tot, die Abgal hatte das Siegel nicht gebrochen und somit die Ruhe des Abaddon nicht gestört, und die B’Nai Elohim waren in Karnak vom Morgenstern für immer unschädlich gemacht worden.
Er bleckte die fingerlangen Reißzähne und brüllte befreit auf, bis der Regenwald um ihn herum erzitterte. Tausende von Vögeln und Flughunden stoben panisch kreischend aus dem Laub und dem Geäst auf und flohen in das Dunkel der Nacht.
Er aber lachte und breitete seine weiten roten Flügel aus, und mit einem gewaltigen Schlag schoss er hinauf in das Dickicht. Der Plan, nun endlich den ihm gebührenden Platz einzunehmen, war schon lange geschmiedet. Jetzt war es an der Zeit, ihn in die Tat umzusetzen ... und sich das zu holen, was ihm zustand.
Die Welt und die Himmel waren die reifen Früchte, die er mit seinen blutigen Klauen ergreifen würde - um sie nun schließlich seinem eisernen Willen zu unterwerfen.
Doch dazu brauchte er die Schlüssel...
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GEFALLEN
1. KAPITEL
Lustsklavin
Ein neuer Freier betrat den Salon.
Anya erhob sich von ihrem Platz auf dem mit rotem Samt gepolsterten Sofa, zupfte den Ausschnitt ihrer Korsage und die Halterlosen zurecht und stellte sich wie immer zu den fünf anderen jungen Frauen des Studios in die Reihe zur Begutachtung. Sie wollte erwählt werden, denn sie hatte heute Nacht noch nicht einen Kunden bedient, und sie sehnte sich nach Ablenkung von der gähnenden Langweile und den verstörenden Gedanken, die der immer wiederkehrende Albtraum heute Nachmittag frisch geweckt hatte.
Der Freier war ein typischer Londoner Geschäftsmann mittleren Alters - dreiteiliger dunkelgrauer Anzug und blütenweißes Hemd von Cad & The Dandy, auf Hochglanz polierte handgefertigte Kalbslederschuhe von Lobb und eine in Anthrazit und Mitternachtsblau schimmernde Seidenkrawatte von Drakes. Sein Gesicht war markant und entschlossen, sein Blick gelassen und dennoch fokussiert, seine Haltung makellos - sein Haar verriet, dass er einmal pro Woche zum Friseur ging. Er gefiel Anya sehr.
Er hatte einen eigenen Koffer mitgebracht, dessen Inhalt zweifellos am Eingang von Sergej, dem Leiter der Sicherheit, überprüft worden war - das versprach zusätzliche Abwechslung ... und die Gewissheit, dass er kein Anfänger war.
Die Chefin, eine Liverpooler Matrone namens Claire, die ihre besten Jahre schon seit mindestens zwei Jahrzehnten hinter sich hatte und scheinbar nicht zu akzeptieren bereit war, dass darüber auch dreifache Lagen Make-up und dick aufgetragener Lippenstift nicht hinwegtäuschen konnten, führte ihn zu einem Sessel gegenüber der Reihe. Sie bat ihn, auf dem einem Thron nicht ganz unähnlichen Designerstück Platz zu nehmen,
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