Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
was gerade passierte. Gunnerus stand jetzt ganz dicht vor der Schalttafel, mit hängenden Armen, als grübelte er über etwas. Aber Anisa hatte ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt dahinter gerichtet, und endlich begriff Linnea.
Kraus war auf der Treppe erschienen. Statt sie an Land zu fahren, hatte er sich hingelegt, um nicht entdeckt zu werden, und war immer weiter bäuchlings die Treppe hinabgerobbt, bis er Anisa endlich im Visier hatte. Linnea wollte ihm signalisieren, dass Anisa etwas bemerkt hatte, aber es wäre ihr nicht gelungen, ohne ihn endgültig zu verraten.
Sie wandte ihren Blick ab, damit sie wenigstens nicht diejenige war, die Anisa auf ihn aufmerksam machte. Aber es war schon zu spät.
Mit einer plötzlichen Bewegung drehte Anisa sich um und schoss.
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G unnerus reagierte als Erster. Er hechtete über den Kartentisch, um an den Feuerlöscher zu gelangen, während Kraus einen Schmerzensschrei ausstieß und auf der Treppe zusammensackte. Gunnerus riss das Gerät an sich und wollte es Anisa auf den Kopf schlagen, ehe sie sich ihm wieder zuwandte.
»Die Pistole!«, schrie Thor.
Durch Thors Schrei abgelenkt, ließ Gunnerus den Feuerlöscher fallen.
Linnea war bereits auf die Beine gekommen. Anisa hatte sich zur Seite gerollt, und Linnea warf sich zwischen sie und Gunnerus, um Anisa am Schießen zu hindern und Gunnerus daran, sich die Pistole zu schnappen. Anisa lag noch immer auf der Bank, aber jetzt riss Linnea sie im Sprung mit, und sie stürzten beide auf die Planken. Gunnerus kämpfte mit Thor, während Linnea auf Anisa landete und im selben Moment wie Gunnerus nach der Pistole griff. Linnea hatte das Gefühl, ihre Hand würde zerquetscht, und sie starrte Anisa direkt in die Augen.
Dann gelang es ihr, einen Finger unter den Abzug zu pressen, so dass Anisa nicht mehr schießen konnte.
Gunnerus versuchte, Linnea wegzuschieben und die Pistole an sich zu reißen. Anisa schrie auf, als ihre Hand krachend nach hinten gebogen wurde. Aber sie hielt die Pistole fest umklammert, und Linnea kämpfte darum, nicht loszulassen. Im Augenwinkel konnte sie sehen, wie Thor den Feuerlöscher hob. Er zielte auf Gunnerus’ Kopf, doch im selben Moment schlug dieser nach Linnea.
Sie konnte im letzten Moment ihren Kopf zur Seite drehen, und sie wälzten sich zu dritt auf dem Boden, so dass Thor Gunnerus am Körper traf anstatt auf den Kopf. Gunnerus warf sich herum, um nach Thor zu treten, und Linnea kam wieder auf Anisa zum Liegen. Sie konnte sehen, wie ihre Adern im Gesicht vor Stress und Wut anschwollen, während sie mit einem lauten Stöhnen versuchte, Linneas Finger vom Abzug wegzuschieben.
Noch immer hielt Anisa die Pistole fest umklammert, doch jetzt gelang es Linnea, ihren Arm auf den Boden zu drücken, so dass die Waffe von ihren Körpern weg zeigte. Im selben Moment befreite Gunnerus sich von Thor und stürzte sich erneut über die beiden.
»Gib mir endlich diese Pistole!«, schrie er.
Sein Gesicht war direkt über Linneas, doch er starrte nicht sie an. Gunnerus und Anisa hatten nur Augen füreinander, und Anisa schrie angestrengt, als es ihr mit vor Anspannung zitternden Händen gelang, die Waffe wieder auf Gunnerus zu richten, sosehr Linnea auch dagegen ankämpfte.
Und dann war es, als würde Linnea alles von außen beobachten.
Thor war kurz davor gewesen, anzugreifen. Gunnerus schlug außer sich vor Wut nach Anisa. Die Pistole wurde gegen ihn gerichtet.
Anisas und Linneas Hände rangen verkrampft darum, die Kontrolle über die Waffe zu erlangen. Linneas Finger wurde näher an den Abzug gepresst.
Jetzt zeigte der Pistolenlauf direkt auf Gunnerus’ Gesicht.
Anisa, die kämpfte. Die Angst in Gunnerus’ Augen, als er verstand, was passieren würde. Thors Rufe im Hintergrund. Anisas stählerner Wille.
Linnea, die dagegenhielt.
Ihr Finger, der immer näher zum Abzug gebogen wurde.
Gunnerus, der versuchte, seinen Kopf wegzudrehen.
Anisa, die vor Anstrengung keuchte.
Die Pistole, die nur eine Handbreit von Gunnerus’ Gesicht entfernt war.
Der Schuss, der sich löste.
Das Mündungsfeuer.
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D as Erste, was ihr auffiel, war die Stille. Zum ersten Mal hörte sie nur das Boot, das beruhigend im Wasser schaukelte und Erinnerungen an einen Sommerurlaub vor langer Zeit weckte, den sie fast schon vergessen hatte. Sie hatte mit geschlossenen Augen auf einem Segelboot unter der griechischen Sonne gelegen und nur ihre Eltern gehört, die unter Deck rumorten. Kalymnos, 1981 . Das Gesicht des Vaters,
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