Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Dann bin ich auf die Rasenfläche vor der Kirche gelaufen. Niemand war zu sehen, kein Laut zu hören. Sobald ich wieder Luft bekam, bin ich davongesprintet. Durch den Park und in Richtung Hafen.«
Es war, als würde Linnea erst jetzt, als sie es ihm erzählte, begreifen, was passiert war. Dass es ihr passiert war. Dass sie ganz kurz davor gewesen war, zu sterben, in einer Kirche in Hamburg, vor nicht einmal einem halben Tag.
»Ich habe mich nicht mal umgesehen, als ich die Explosion hörte«, fuhr sie fort. »Der Knall war unglaublich. Ich hörte Glas klirren und Holz splittern, aber ich rannte einfach nur weiter. Rannte und rannte.«
Sie unterbrach ihren Bericht und sah Thor an.
»Du musst mir helfen«, sagte sie.
Dankbar nahm sie das Taschentuch entgegen, das er ihr reichte, tupfte sich die Augen ab und gab es ihm wieder zurück. Ihre Tränen waren versiegt.
»Ich bin hier, bei dir«, sagte Thor. »Lass uns nach Hause fahren.«
Er streckte die Hand aus und stützte sie beim Aufstehen.
»Zuallererst musst du schlafen, und anschließend solltest du professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Mit jemandem darüber sprechen. Morgen, nach einem langen, erholsamen Schlaf.«
Linnea schüttelte den Kopf.
»Du verstehst das nicht«, erwiderte sie. »Ich muss nicht mehr darüber sprechen. Ich muss auch nicht mehr darüber nachdenken. Ich kann nicht schlafen, denn dann holt mich das alles wieder ein. Ich muss dafür sorgen, dass diese Gedanken nicht länger in meinem Gehirn umherschwirren. Mich selbst vergessen und das Ganze ein wenig auf Abstand halten.«
Sie sah ihn an.
»Ich brauche etwas, womit ich mich ablenken kann«, schloss sie. »Hast du nicht irgendeine Aufgabe für mich?«
38
A uch diesmal sah Innocent Musoni sie zuerst. Thor und Kraus erkannten nur, dass er es war, der gerade in die Griffenfeldsgade einbog, weil er sich plötzlich umdrehte. Vermutlich war er gerade auf dem Weg in den afrikanischen Club. Sie selbst kamen aus Richtung Stengade, wo sie geparkt hatten. Daran, dass Musoni sie gesehen hatte, bestand jedenfalls kein Zweifel.
»Warten Sie!«, rief Thor.
Doch Musoni hatte sich bereits umgedreht und rannte davon. Er sprintete in Richtung Rantzausgade und Åboulevarden, und Thor quetschte sich fluchend an der Straßensperre vorbei, um ihm nachzusetzen.
»Du nimmst das Auto!«, rief er seinem Kollegen zu.
Doch Kraus hatte bereits verstanden, was Thor vorhatte, und spurtete durch den kleinen Park bei der Prins Jørgens Gade. Musoni sah sich nicht noch einmal um und legte ein so beeindruckendes Tempo vor, dass Thor bezweifelte, ihn je einholen zu können. Eigentlich war er gut in Form, aber der Prediger schien überraschend trainiert. Thor rief ihm einige Male hinterher, erreichte damit aber nur, dass eine Gruppe Halbwüchsiger, die an einer Straßenecke herumlungerte, zurückschrie. Umso erleichterter war er, als Musoni den taktischen Fehler beging, nicht abzubiegen, als er an der Væversgade die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Theoretisch hätte er sie beim Hans Tavsens Park oder am Assistens Kirkegård abschütteln können, aber im nächsten Moment hörte Thor die quietschenden Bremsen unten an der Korsgade und wusste, dass sie ihn hatten.
Kraus kam mitten auf der Straße zum Stehen, blockierte einem Stadtbus den Weg und riss die Tür des Wagens auf. Er hatte Musoni bereits am Kragen gepackt, als Thor ankam und schwer nach Luft schnappte.
»Auf die Rückbank mit ihm«, sagte Thor. »Fahr los.«
Er selbst setzte sich neben Musoni und legte ihm Handschellen an, während Kraus beschleunigte, geradewegs über zwei Kreuzungen fuhr und dann auf den H. C. Ørsteds Vej gelangte. Statt in die Stadtmitte zu fahren, lotste Thor sie durch Vesterbro hindurch und weiter geradeaus. Er spürte Musonis Blick, ignorierte ihn aber. Er hatte das Gefühl, dass es mit dem Dauerlächeln des Predigers nun vorbei war.
»Soll das etwa dänische Polizeigewalt darstellen?«, fragte Musoni. »Ich kenne meine Rechte genau. Wenn ihr mich nicht verhaften wollt, könnt ihr mich genauso gut gleich absetzen.«
Thor blickte immer noch starr geradeaus und würdigte Musoni keines Blickes.
»Sie sind dermaßen verlogen«, entgegnete er nur. »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber die Klappe halten und froh sein, dass diese angebliche Polizeigewalt das Einzige ist, was Ihnen bisher widerfahren ist.«
Musoni wollte protestieren, aber Thor hielt die Hand hoch, was den Prediger überraschenderweise kurz verstummen ließ. Sie
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