Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)

überhaupt mal Gedanken darüber gemacht, wer sie ist? Wozu sie in der Lage ist? Ihr Dänen seid immer so naiv, ihr verwechselt Gut und Böse.«
    Thor schüttelte nur den Kopf und gab Kraus ein Zeichen.
    »Ich habe eigentlich keine Lust, mir Ihre Lügen noch länger anzuhören«, sagte er.
    Er überlegte einen Moment, dann ging er zum Auto zurück und setzte sich hinein, während Kraus die Schlüssel holte, um Musonis Handschellen zu öffnen. Plötzlich überkam ihn eine bleierne Müdigkeit. Seit Kraus ihm hektisch von Musonis wahrer Identität erzählt hatte, hatten sie überlegt, was sie unternehmen sollten. Aber eigentlich gab es nicht viel zu diskutieren. Denn auch wenn es kaum zu glauben war: Musoni war schon im letzten Jahr festgenommen worden und hatte vierundzwanzig Tage in Untersuchungshaft gesessen, ehe erst das Amtsgericht in Roskilde und anschließend auch das Östliche Landgericht seinen Fall eingestellt hatten, weil man ihn nach dem Völkermordgesetz nicht verurteilen konnte, da dieses sich nur auf einen auf dänischem Boden begangenen Völkermord anwenden ließ. Deshalb war gerade ein Staatsanwalt für internationale Strafsachen eingeschaltet worden. Aber es war eine Tatsache, dass sich unzählige wegen Völkermords angeklagte wie auch verurteilte Täter als Flüchtlinge in Dänemark aufhielten. Und soweit Thor wusste, konnten bisher nur wenige von ihnen abgeschoben und nur ein einziger verurteilt werden.
    Kurz darauf kam Kraus zurück. Er löste die Handbremse und fuhr los, Musoni ließen sie in der Einöde zurück.
    »Glaubst du, dass Mikkel Spang-Hansen ihn kannte?«, fragte Kraus.
    »Soweit ich weiß, hat er eine Reportage über Typen von diesem Kaliber geschrieben. Vielleicht sollten wir Ewald bitten, sie sich genauer anzusehen.«
    »Du denkst, dass unser Freund etwas mit den Spuren eines dritten Mannes zu tun haben könnte, die wir in Helgoland gefunden haben?«
    »Ich denke vor allem an Rache. Ich denke an die Furcht davor, aufzufliegen, seinen Asylbewerberstatus zu verlieren, ausgewiesen zu werden und im Gefängnis zu landen. Ich denke, dass das eine Verbindung zu Vibe Herzog sein könnte.«
    Thor warf im Rückspiegel einen Blick auf den Prediger.
    »Und ich denke, dass wir Musoni im Auge behalten müssen. Wenn wir ihn verhören, serviert er uns nur noch mehr Lügen. Aber wenn Anisa ihn aufsucht, oder er sie, möchte ich das in derselben Sekunde wissen, in der sich ihre Blicke treffen. In derselben Sekunde.«
    »Dein Wort sei mir Befehl.«

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    D er Seifengeruch war unverkennbar.
    »Man gewöhnt sich daran«, sagte Linnea. »So riecht es nun mal, wenn Knochen abgekocht werden.«
    Sie sah zu Thor auf und lächelte. Bisher war sie allein im osteologischen Labor gewesen, ganz auf ihre Untersuchung konzentriert. Vor ihr schimmerte der Knochenausschnitt weiß in der ansonsten spärlichen Beleuchtung, und sie umarmte Thor hastig, was ihn anscheinend überraschte. Er sah sie an.
    »Es ist wirklich okay«, sagte sie. »Kann sein, dass du mir nicht glaubst. Aber das hier ist genau das, was ich brauche.«
    Sie wusste, dass sie müde aussah. Und wahrscheinlich leichenblass, Thors besorgtem Blick nach zu urteilen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt ein Auge zugetan hatte. Dann zog sie ihn mit zum Arbeitstisch in der Ecke, schaltete den Computer ein und suchte den rechtsmedizinischen Bericht zu Vibe Herzogs Leiche heraus. Sie überflog ihn.
    »Bei der Obduktion wurden siebenundzwanzig ›Zeichen von Gewalteinwirkung‹ gefunden.«
    Sie scrollte weiter nach unten im Text.
    »Die innere Untersuchung ergab achtzehn Stich- und Schnittverletzungen, von denen zwei tödlich waren. Zahlreiche Abwehrspuren an den Händen in Form von Messerschnitten. Als Todesursache werden die nachgewiesenen Stichverletzungen angenommen, speziell eine in der linken Seite des Brustkorbs, die auch das Herz traf, sowie ein Schnitt in der linken Armbeuge, bei der die rechte Lunge getroffen wurde.«
    Collin hatte Vibe Herzog noch in der Nacht obduziert, und Linnea konnte seinen Ergebnissen – ausgehend von einem oberflächlichen Vergleich der Scan-Ergebnisse, die sie im Intranet gefunden hatte – nur zustimmen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den gereinigten Knochenabschnitt vor sich. Auch wenn die Tote schon unter den Messern des Rechtsmedizinischen Instituts gelegen hatte, nahm Linnea eine erweiterte forensische Untersuchung vor, um herauszufinden, ob die besagte Verletzung an der