Bewahre meinen Traum
hatte auch einen Sommerjob, im Inn am Willow Lake, wo sie die Zimmer putzte und die Betten machte. Die meisten Menschen hielten das für nichts Besonderes, aber Nina arbeitete gerne dort. Anders als zu Hause war es ruhig und beinahe feierlich, und nachdem man etwas sauber gemacht hatte, blieb es tatsächlich auch eine Weile so, anstatt sofort von verdreckten Brüdern oder unordentlichen Schwestern wieder verwüstet zu werden. Manchmal hinterließ ihr ein Gast sogar ein Trinkgeld, eine knisternde Fünfdollarnote in einem Umschlag, auf dem „Zimmermädchen“ stand.
Jenny stupste Nina an und riss sie damit aus ihrer Träumerei. „Los, gehen wir.“
Jennys Großvater ging zu der großen Industrieküche des Camps, in der Ninas Mutter arbeitete. Die Mädchen beeilten sich, ihre Pflicht zu erledigen, damit sie noch ein wenig auf dem Campgelände herumlaufen konnten. Nina fand das schöner als jeden Traum. Ein Wunderland aus grünem Wald und saftigen Wiesen, klaren Flüssen und einem glitzernden See. Das Haupthaus, in dem die Camper gerade mit dem Mittagessen fertig waren, war aus geschälten Baumstämmen im Adirondack-Stil erbaut worden und beherbergte den großen Speisesaal.
„Da sind sie“, sagte Jenny und ließ von ihrem Platz auf der Treppe, die zur Küche hinunterführte, ihren Blick über die Gruppe der Camper gleiten. Die verschiedenen Altersgruppen saßen an langen Tischen, von denen das Klappern von Geschirr und das Lachen und Quatschen der Kinder herüberscholl. Jenny konzentrierte sich auf die Gruppe der Zwölf- bis Vierzehnjährigen. „Ist er nicht unglaublich?“, flüsterte sie hingerissen.
Nina konnte nicht sprechen, auch wenn jede Zelle in ihrem Körper Ja sagte. Er war unglaublich groß, hatte ein perfekte Haltung, sandfarbene Haare und ein Killerlächeln. Er trug dunkelblaue Camp-Shorts und ein graues T-Shirt, auf dem „Betreuer“ stand.
Jenny sah, wohin ihre Freundin schaute und stieß sie mit dem Ellbogen an. „Nicht er, du Doofchen. Das ist Greg Bellamy. Der ist voll alt, schon achtzehn oder so.“ Sie zeigte auf die jüngere Gruppe. „Ich meine ihn.“ Ihr bewundernder Blick legte sich auf einen der Camper, einen ruhigen, schlaksigen Jungen, der eingehend seinen Kompass studierte.
„Oh …“, sagte Nina. „Der.“ Sie betrachtete das Objekt von Jennys hingerissener Zuneigung. Ein Sonnyboy namens Rourke McKnight. Jenny hatte ihn vor zwei Sommern das erste Mal getroffen und war seitdem davon überzeugt, dass sie vom Schicksal füreinander bestimmt waren. Schicksal-Schnicksal, dachte Nina.
Ein kleinerer, dunkelhaariger Junge setzte sich neben Rourke. „Joey Santini“, sagte Jenny mit zittrigem Seufzen. „Sie sind die besten Freunde. Ich weiß nicht, welcher von beiden süßer ist.“
Ich schon, dachte Nina. Ihr Blick wanderte immer wieder zu dem älteren Jungen. Greg Bellamy. Der Name hallte ihr mit vollem Orchesterklang immer wieder durch den Kopf. Greg Bellamy. Zum einen war der Name Bellamy ein Hinweis darauf, dass er etwas ganz Besonderes war. In diesem Teil des Landes war ein Bellamy zu sein so, wie in Boston ein Kennedy zu sein. Die Leute wussten, wer man war und wer „deine Leute“ waren. Man hatte diese Aura von Prestige und Privilegien, ob man sie nun verdiente oder nicht.
„Hey, ihr zwei“, rief Ninas Mutter aus der Küche. „Das Mittagessen ist gerade vorbei. Geht ruhig rauf und holt euch was zu essen.“
Jenny blieb scheu auf der Treppe zwischen der Küche und dem Speisesaal stehen.
„Verlegenheit ist reine Zeitverschwendung“, murmelte Nina. In ihrer Familie ging man unter, wenn man nicht den Mund aufmachte und sagte, was man wollte. Sie packte Jenny am Arm und zog sie mit sich in den Speisesaal. Am Büfett nahmen sie sich ein paar Sandwiches und etwas zu trinken. Vorsichtig darauf bedacht, ihre Limonade nicht zu verschütten, ging Nina mit ihrem Tablett auf Greg Bellamy zu. Der verschaffte sich gerade einen Überblick über das Angebot auf dem Tisch mit den Desserts, eine reiche Auswahl aus der Bäckerei der Majeskys – Limonenschnitten und Pfirsichküchlein, Walnussbrownies und Obstkuchen. Es war noch ein einziges Stück Kirschkuchen übrig. Wenn es etwas gab, das Nina den süßesten Jungen vergessen ließ, dann war es der Kirschkuchen aus der Sky River Bakery.
Sie griff nach dem Teller. Im gleichen Moment streckte jemand von der anderen Seite des Tisches seine Hand danach aus – Greg Bellamy. Sie schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Diese
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