Bewahre meinen Traum
afroamerikanischer Absolvent von West Point, der renommierten Militärakademie. Seine Frau war die Enkeltochter eines berühmten Bürgerrechtlers, und seine Töchter waren mit Auszeichnungen überhäufte Schülerinnen der Sidwell Friends School. Dennoch war es ihm wirklich wichtig, dass Sonnet sich wohlfühlte – zumindest war es Nina so vorgekommen. Am Ende des Sommers würde Sonnet ihr Studium an der American University aufnehmen. Keine große Sache, dachte Nina. Alle Kinder verließen irgendwann das Nest, oder?
Die Tatsache, dass Sonnet mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihren Stiefschwestern leben würde, war auch kein Problem. Patchworkfamilien waren heutzutage doch ganz normal.
Warum verfiel sie dann aber jedes Mal in Panik, sobald sie sich Sonnet in dem perfekten Georgetown-Häuschen vorstellte oder in dem idyllischen belgischen Städtchen voller SHAPE- und NATO-Angehöriger? Nina spürte, dass ihre Tochter ihr fremd wurde, sich jeden Tag ein Stückchen mehr von ihr entfernte. Hör auf, rief sie sich zur Ordnung.
Sie gehen zu lassen war eine gute Entscheidung. Es war, was Sonnet wollte. Es war, was Nina wollte, etwas, worauf sie schon so lange gewartet hatte: Freiheit, Unabhängigkeit. Trotzdem war es schwer gewesen, Auf Wiedersehen zu sagen. Zum Glück habe ich etwas, zu dem ich zurückkommen kann, dachte Nina. Zum Glück erwartet mich nicht nur ein leeres Haus. Sie hatte ein neues Leben, einen Plan für ihre Zukunft, ein neues Abenteuer. Nichts konnte den Platz ihrer Tochter einnehmen, aber Nina war entschlossen, weiterzumachen. Es gab Dinge, die sie aufgegeben hatte, Dinge, die sie wegen der die frühen Mutterschaft verpasst hatte. Nein, korrigierte sie sich. Nicht verpasst. Verschoben.
Shane sprach immer noch, und Nina fiel auf, dass sie nicht ein einziges Wort gehört hatte. „Es tut mir leid. Was hast du gerade gesagt?“
„Hab ich dir erzählt, was ich für einen Bock habe, Kajak zu fahren? Ich hab das noch nie gemacht.“
Bock? Hatte er wirklich ‚Bock haben‘ gesagt? „Der See ist ein guter Ort, um damit anzufangen. Das Wasser ist ziemlich ruhig.“
„Sogar wenn es das nicht wäre“, sagte er. „Ich bin vorbereitet. Ich habe sogar eine Ausrüstung gekauft, extra für heute.“
Sie erreichten den Steg und das Bootshaus, an dem es vor Menschen nur so wimmelte, die den bisher schönsten Tag des Jahres genießen wollten. Nina sah Pärchen und Familien, die spazieren gingen oder im flachen Wasser am Ufer planschten. Ihr Blick fiel auf ein Paar auf einer Bank am Seeufer. Sie schauten einander an, hielten sich an den Händen und schienen in eine interessante Unterhaltung vertieft. Es waren ganz normale Menschen – er hatte schon etwas dünnes Haar, sie eine etwas füllige Taille –, doch sogar aus der Ferne konnte Nina ihre Vertrautheit miteinander fühlen. Menschen, die einander liebten und vertrauten, hatten eine ganz besondere Körperhaltung. Der Anblick der beiden ließ Nina wehmütig werden; sie war keine Expertin, was die Liebe anging, weil sie sie noch nie selber erlebt hatte. Eines Tages, dachte sie, werde ich das Geheimnis vielleicht auch ergründen.
Aber vermutlich nicht heute, fügte sie innerlich mit einem Seitenblick auf Shane hinzu.
Er fasste ihren Blick falsch auf. „Ich dachte, nach dem Kajakfahren gehen wir zu mir“, sagte er. „Ich mache uns was zu essen.“
Bitte, dachte sie, bitte, hör auf, dich so anzustrengen. Doch sie sagte nichts, sondern lächelte ihn an. „Danke, Shane.“ Wieder einmal ermahnte sie sich, locker zu bleiben. Eine Verabredung glich ein wenig einer Expedition in unbekanntes Terrain.
„Nina“, rief jemand. „Nina Romano!“
Da, bei den Bänken und Tischen in der Nähe des Bootshauses, war Bo Crutcher, der Star-Pitcher der Avalon Hornets, einem Team der kanadisch-amerikanischen Baseballliga. Wie immer hing der große, schlanke Texaner mit seinen Kumpels ab und trank Bier.
„Hey, Darling“, begrüßte er sie. Sein Akzent klang so weich wie sonnengewärmter Honig.
„Ich bin nicht dein Darling, Bo“, entgegnete sie. „Und gibt es nicht eine Regel bezüglich des Genusses von Alkohol vor einem Spiel?“
„Schätze schon. Wie bist du nur so klug geworden?“
„Ich bin so geboren.“
„Es scheint, als wenn du jeden in der Stadt kennst“, bemerkte Shane.
„Das war der Teil, der mir als Bürgermeisterin am besten gefallen hat – so viele Leute kennenzulernen.“
Shane warf Bo über die Schulter einen Blick zu. „Ich weiß
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