Bewegungswissenschaft
bestimmen.
Grundsätzlich ermöglichen biomechanische Modellierungen die Vereinfachung, Analyse, Erklärung, Prognose, Optimierung und Vermittlung komplexer Sachverhalte der anthropometrischen Biomechanik (z. B. Körperbaumerkmale), der Leistungsbiomechanik (motorische Leistungsvoraussetzungen, disziplinspezifische Bewegungstechniken, Techniksteuerung, Technikoptimierung usw.), der präventiven Biomechanik (z. B. Belastung und Belastbarkeit des Bewegungsapparats) oder differenzierte Kenntnisse über die organismische Belastbarkeit und die Grundlagen der Motorik.
4.1 Wovon ist etwas Modell?
In der Sportwissenschaft betreffen die Gegenstandsbereiche biomechanischer Modelle den sporttreibenden Menschen unter den naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten des sportmotorischen Verhaltens, der Struktur des Körperbaus und der organismischen Materialeigenschaften (B ALLREICH , 1989, 1996).
Dem Aspekt des sportmotorischen
Verhaltens lassen sich verschiedene Funktionsprozesse und
Funktionsprodukte zuordnen. Zu den Funktionsprozessen zählen das Zusammenwirken externer (Schwer-, Reibungs-, Trägheitskräfte usw.) und körperinterner Kräfte (z. B. Muskelkräfte) oder die Kontrollprozesse motorischer Handlungen (muskuläre Innervationsdauer, intra- und intermuskuläre Koordination usw.). Die Funktionsprodukte betreffen die Veränderung des Bewegungszustandes oder des Form- und Spannungszustandes des Bewegungsapparats.
Die Struktur des Körperbaus simulieren biomechanische Modelle hinsichtlich der Größen-, Umfangs- und Volumenmaße, der Trägheitsmomente, der Massenverteilung, der Proportionen, der Hebelverhältnisse oder der Freiheitsgrade der Körpergelenke.
Bei den organismischen Materialeigenschaften interessieren die Kraft-, Druck-, Zug- und Biegeeigenschaften des aktiven und passiven Bewegungsapparats.
Grundsätzlich müssen biomechanische Modelle eine sinnvolle Reduzierung der Systemkomplexität des Modelloriginals darstellen (Abstraktion): So einfach wie möglich, so komplex wie nötig . Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen den biologischen Eigenschaften des Menschen (Modelloriginal) und den Vereinfachungen des Modells eine Ähnlichkeit bestehen muss (Ähnlichkeitsmerkmal), dass nicht alle Eigenschaften des Originals abgebildet werden müssen (Ökonomiemerkmal) und dass Modelle einen Nutzer- und Zweckbezug aufweisen müssen (Subjektivierungsmerkmal; B ALLREICH , 1996). Des Weiteren benötigt die biomechanische Modellierung des Funktionierens, der Körperstrukturen und der organismischen Materialeigenschaften des Menschen geeignete Darstellungskonstrukte und Analyseinstrumente (Operationalisierung).
Bis vor einigen Jahren war es in der Bewegungswissenschaft des Sports üblich, mit biomechanischen Körpermodellen lediglich eng umgrenzte Ausschnitte des sporttreibenden Menschen zu betrachten. Abbildung 92 zeigt exemplarisch ein mechanisch-statisches Körpermodell der Jazztanzbewegung „demi plié in 2. Position“ (halbe Kniebeuge in der Seitgrätschstellung, vgl. Abb. 92 a) und ein mechanisch-dynamisches Modell zur Veranschaulichung der Änderung von Bewegungszuständen beim Reckturnen ( vgl. Abb. 92 b). Im Reckturnermodell erfährt der reale Kunstturner eine Reduzierung auf drei Massen (Rumpf, Arme, Beine) mit zwei Gelenken (Schulter-, Hüftgelenk). Das Niederdrücken der beiden Hebel bewirkt die Gelenkbeugung, das Anheben verursacht die Gelenkstreckung. Kombinierte Beuge- und Streckbewegungen der Schulter- und Hüftgelenke können komplexe Turnelemente wie Schwingen, Schwungstemmen, Kippen, Riesenfelgen oder Felgumschwünge simulieren.
Abb. 92: Mehrgliedrige Körpersegmentmodelle des Menschen
a ) Mechanisch-statisches Modell der Jazztanzbewegung „demi plié in 2. Position” (halbe Kniebeuge in der Seitgrätschstellung; mod. nach B AUER , 2004, S. 2)
b ) Mechanisch-dynamisches Reckturnermodell (mod. nach B AUER , 2004, S. 3)
c ) Dynamisches Schwabbelmassenmodell zur Simulation von Niedersprüngen und sporttypischen Bewegungen (mod. nach W AGNER , 2004, S. 1)
Die Ergebnisse der Modellierung sporttypischer Bewegungsabläufe mit großen Beschleunigungen (z. B. Landung aus großer Höhe) werden in einfachen mechanischen Teilkörpermodellen durch die Annahme verfälscht, dass der Mensch ein System aus starren, über Gelenke miteinander verbundenen Körpersegmenten darstellt. In der Realität zeigen die nachschwingenden Weichteile des menschlichen Körpers (Muskeln, Bänder, Haut-, Fettgewebe), die
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