Big Sky Country - Das weite Land (German Edition)
den Schlafsack zusammen und sah sich nach einem Platz um, wo sie ihn verstauen konnte. Letzteres stellte sich als echte Herausforderung dar. Platz war in diesem Gästehaus nämlich etwas, woran es eindeutig mangelte. Unter ziemlicher Anstrengung gelang es ihr schließlich, das unhandliche Bündel unter den Badezimmerschrank zu schieben. Als Nächstes holte sie sich ein paar Laken, die schwach nach frischer Luft und Sonne dufteten, und bezog das Bett.
In ihrem Anfall von Tatendrang stellte Joslyn sogar ihren Laptop auf den kleinen Schreibtisch vor dem Wohnzimmerfenster. Allerdings konnte sie sich nicht überwinden, ihn hochzufahren und sich einzuloggen. Sie hatte viel zu viele 18-Stunden-Arbeitstage hinter sich, an denen sie Software entwickelt hatte. Das neue, von ihr programmierte Spiel hatte sie vermarktet und patentieren lassen und schließlich die ganze Firma für eine beträchtliche Summe an einen multinationalen Konzern verkauft.
Sie war eine sehr reiche Frau gewesen – ungefähr fünf Minuten lang. Jetzt hatte sie einen Gebrauchtwagen und gerade so viel Geld auf der Bank, um – wenn sie sparsam war – ein Jahr davon leben zu können. Außerdem spürte sie zum ersten Mal, seit sie siebzehn war, wieder einen gewissen inneren Frieden.
In Parable spätnachts anzukommen war eine Sache. Sich am helllichten Tag in die Stadt zu wagen, wo sie mit Sicherheit einige Bewohner treffen würde, war natürlich eine ganz andere. Doch sie brauchte ein paar Lebensmittel. Gestern hatte sie ja nur ein paar unverderbliche Dinge besorgt, und außerdem hatte sie Kendra versprochen, im Büro vorbeizuschauen und ein Auge auf potenzielle Kunden zu haben.
Und immerhin, sagte sie sich tapfer, war sie nicht nach Parable zurückgekommen, um sich zu verstecken.
Die Gründe für ihre Heimkehr waren alles andere als konkret, obwohl sie sich die ganze Situation immer wieder durch den Kopf hatte gehen lassen. Klar war, dass sie bei den Leuten, die ihr Stiefvater betrogen hatte, etwas gutmachen wollte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie für die Machenschaften eines anderen Menschen nicht verantwortlich war.
Warum also war sie wieder hier? Warum hatte sie so viel geopfert, einen guten Job aufgegeben und die Firma verkauft, die sie sich in nächtelanger Arbeit und ohne ein freies Wochenende aufgebaut hatte? Warum hatte sie ihre Luxuswohnung und ihr Traumauto aufgegeben?
Die einzige Antwort, die Joslyn in diesem oder jedem anderen Moment hätte geben können, war, dass etwas – ein allzu aus – geprägtes Gewissen? – sie an diesen Ort zurückgezogen hatte. Der Drang zurückzukehren war jedenfalls enorm gewesen und hatte sich genauso wenig ignorieren lassen wie ein Tsunami oder ein Erdbeben.
Dieser Drang war, wie ihr schien, aus einem versteckten Teil ihrer Seele gekommen und hatte sie – fast in blindem Vertrauen – zuerst einen Schritt und dann noch einen und noch einen machen lassen.
Es war so ähnlich, als tanzte man mit verbundenen Augen auf einem Seil. Es gab kein Zurück, und wenn sie nicht weiterging, würde sie das Gleichgewicht verlieren und abstürzen.
Joslyn seufzte und marschierte entschlossen zur Tür.
In Kendras Büro kurz nach dem Rechten zu sehen bedeutete natürlich, dass sie das Haupthaus betreten musste. Joslyn wusste, dass sie alle möglichen Erinnerungen einholen würden, sobald sie einen Fuß über die Schwelle setzte. Andererseits sprach einiges dafür, Dinge wie diese einfach hinter sich zu bringen. Kendra wohnte im ersten Stock und hatte das riesige Wohnzimmer zum Büro ihrer Immobilienfirma umgestaltet. Und dort würde Joslyn ab Montag ganztags arbeiten.
Also konnte sie genauso gut jetzt, solange sie noch ungestörtwar, die bittere Pille schlucken und sich der ersten und unvermeidlichen Begegnung mit ihrer Vergangenheit stellen. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet und die Schultern energisch gestrafft hatte, ging Joslyn über die riesige Wiese, auf der Blumen in unterschiedlichsten Formen und Farben blühten, zum Herrenhaus hinüber. Dann stieg sie die kleine Holztreppe zu der Veranda hinauf und legte ihre Hand auf den Griff der Glastür. Abgesperrt.
Joslyn entfuhr ein Seufzen. Ihr fiel gerade Kendras Bemerkung über die Kleinkriminalität in Parable wieder ein. Offensichtlich beherzigte ihre Freundin selbst, was sie anderen riet. Da sie Joslyn keinen Schlüssel gegeben hatte, war bestimmt das vordere Eingangstor offen.
Joslyn ging die Verandatreppe wieder hinunter und über den vertrauten
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