Im Netz des Spinnenmanns: Thriller (German Edition)
Sacramento, Kalifornien
Samstag, 17. August 1996, 18:47 Uhr
Der hohe und dichte Oleanderbusch bot ihm Schutz im Schatten der Nacht, als er den Eingang zum Haus der Andersons beobachtete. Hinter ihm befand sich eine Wiese mit hohem, trockenem Gras, die ihm von Nutzen sein würde, wenn er später wieder zu seinem Wagen auf der anderen Seite des Hauses zurückkehrte. Bei dem trockenen Gras bestand akute Feuergefahr. In seinem Wohnviertel hätte sich längst jemand darum gekümmert. Er beobachtete die Gegend jetzt schon seit zwei Monaten und hatte in dieser Zeit festgestellt, dass die Leute, die hier wohnten, vollkommen sorglos waren. Es gab keine Schilder, die auf einen Nachbarschaftswachdienst hinwiesen, keine regelmäßigen Anwohnerversammlungen, keine Kommunikation.
Idioten.
Wussten diese Trottel denn nicht, dass es keine bessere Kriminalitätsvorbeugung als eine informierte Öffentlichkeit gab? Leute, ihr müsst aufpassen, was in eurem Viertel passiert. Haltet die Augen offen und achtet vor allem auf Fremde oder unbekannte Autos. Bei so viel Naivität konnte er nur den Kopf schütteln.
Die sogenannten »Experten«, die in den Medien zu Wort kamen, beharrten darauf, dass es bei den jüngsten Morden dem Täter darum ging, Kontrolle auszuüben und Gott zu spielen. Aber da lagen sie völlig daneben. Es ging um Geduld. Er hatte nicht nur die Geduld eines Heiligen, nein, er war einer. Er war nicht durchgedreht oder verrückt, er war nichts von alledem, was die Reporter über ihn schrieben. Wäre er wirklich ein »durchgeknallter Irrer«, würde er sich jeden dieser sogenannten »Experten« einzeln vornehmen und danach Feierabend machen.
Gregory O’Guinn, ein pensionierter FBI-Agent, der jetzt Bücher schrieb, bezeichnete ihn als Versager und behauptete, er wäre ein Außenseiter … eine gescheiterte Existenz, jemand, dem es Spaß machte, unschuldige Opfer zu quälen. Gregory O’Guinn war ein schlechtes Aushängeschild für die Harvard-Universität.
Aber was kümmerte es ihn, was O’Guinn dachte? Er wusste, was wirklich Sache war, wusste genau, was er tat, und warum. Er konnte durchaus zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Wenn dieser Autor sich die Mühe gemacht hätte, diese Mädchen gründlicher zu durchleuchten, hätte er gesehen, dass sie alles andere als unschuldig waren. Sie waren unanständige Mädchen, respektlose Teenager, die ihn dazu gezwungen hatten, einzuschreiten, weil es sonst niemand tat. Wenn O’Guinn wüsste, was wirklich Sache war, würde er ihn einen heroischen Rächer nennen, einen Mann, der sich nicht um formale Gesetze scherte, sondern auf eigene Faust für Gerechtigkeit sorgte.
Er behielt den Eingang zum Haus der Andersons im Auge und warf zwischendurch einen Blick auf seine Armbanduhr, eine Rolex Oyster Perpetual Sea-Dweller. Den Ärger, der ihn innerlich auffraß, schluckte er hinunter. Trotz seiner Abneigung gegen alle Arten von Wasser – sowohl Salz- als auch Süßwasser – hatte er sich schon immer eine Rolex Sea-Dweller gewünscht. Sein Vater hatte genau dasselbe Modell getragen. Die Uhr hatte ein 31-Juwelen-Automatikwerk und eine Tauchtiefe von 1220 Metern. Sie war solide, aber nicht so schwer wie diese klobigen Omegas, die aus dem sündhaft teuren Edelstahl 904L gefertigt wurden. Das Zifferblattkonnte man selbst im Dunkeln gut sehen. Die Uhr war ein Geschenk an sich selbst gewesen, dafür, dass er seine Sache besonders gut gemacht hatte – drei Mädchen innerhalb von drei Monaten – alle eine Bedrohung für die Gesellschaft.
Er kniff die Augen zusammen.
Wo blieb Jennifer nur?
In den letzten acht Wochen waren Jennifer Andersons Eltern jeden Samstagabend mit einer Regelmäßigkeit, die an die Präzision eines Uhrwerks grenzte, zum Abendessen und anschließend ins Kino gegangen. Ihre sechzehnjährige Tochter hatten sie jedes Mal allein zu Hause gelassen. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, dass ihre Tochter sich bereits nach fünf Minuten aus dem Haus schlich und zu einem nahe gelegenen Park ging, wo sie sich mit ihrem Freund traf. Dafür sollte sie sich schämen.
Da er nicht daran zweifelte, dass sie irgendwann das Haus verlassen würde, beschloss er, noch eine Weile zu warten. Dabei musste er an die anderen Mädchen denken, die er in letzter Zeit bestraft hatte. Die Experten mutmaßten, dass es ihm einen Kick verschaffte, wenn er die Mädchen folterte. Das war einfach nur lächerlich. Die morbide Neugier der Öffentlichkeit bereitete ihm ein weitaus
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