Bilder von dir: Roman (German Edition)
weitertragen sollte.
Er wusste es nicht und würde es auch nie wissen.
Er musste geträumt haben. Nichts von alledem konnte auch nur im Entferntesten wahr sein. Er war zweiunddreißig. Amy war einunddreißig. Sie waren jung und voller Lebenskraft. Ihre Körper und ihr Verstand oblagen noch immer allein ihrer eigenen Kontrolle. Er konnte sich Amy – ihren Körper, Amys Körper – nicht unter Strom gesetzt vorstellen. War sie abgehoben? War sie gefallen? Hatte sie ausgesehen, als würde sie tanzen?
Sie tanzte gern.
Bestimmt hatte Amy kein Testament gemacht, dazu war es noch viel zu früh – aber mit Sicherheit wusste er es nicht. Und nur weil sie offiziell kein Testament hinterlegt hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass Amy nach ihrem Tod nicht gewisse Dinge getan oder gesagt oder verschenkt wissen wollte. Nur weil Arthur keine Ahnung hatte, was Amys Wunsch zufolge mit ihrem Körper zu geschehen hatte, bedeutete dies nicht, dass Amy es nicht wusste.
Warum hatte sie es ihm nicht gesagt?
Warum hatte er sie nicht gefragt?
Was wusste er sonst noch alles nicht?
Was sonst hatte er – DER Wahrnehmer, DER Beobachter, der so viele Fremde so gut einschätzen konnte – von seiner Frau nicht gewusst? Was war ihm entgangen? Was ließ sich noch entdecken, wenn er nur genau genug hinsah?
Um die Hebelkraft zu nutzen, drückte er erst seinen Rücken gegen die Wand und dann den Rest seines Körpers langsam und vorsichtig vom Boden ab. Er blinzelte die Sterne zurück, die vor ihm zu tanzen anfingen. Er konnte es – wenn er, Arthur Rook, etwas sehen konnte, dann war das seine Frau. Dass sie nicht hier war, machte nichts. Er konnte sehen.
Er fing im Schlafzimmer an. Durchwühlte ihre Kommode, wo er auf ihre gelb-schwarz gestreiften Socken stieß, den riesigen grünen Pullover ihres Großvaters, den blauen Spitzen- BH , den sie an ihrem dritten Hochzeitstag getragen hatte und der ihre blasse Haut zum Leuchten brachte. Überall roch er Amy, aber er sah nichts, was er nicht bereits kannte. Er schaute unter dem Bett nach und sah ihre violetten Bowlingschuhe, auch die weißen zehenfreien Pumps, die sie Marylin (der linke) und Norma Jean (der rechte) nannte. Er durchsuchte das Badezimmer, den kaputten Medizinschrank und den Wäschekorb. Er warf Rasierklingen, die sie nie benutzten, und ungeöffnete Zahnpastatuben und schmutzige Kleider auf den Boden und sah noch immer nichts. Die Feuchtigkeit auf Arthurs Haut verdunstete langsam, aber ihm war kalt, da er nur ein Handtuch umhatte, und er zitterte so heftig, dass seine Zähne im Schädel klapperten. Er rannte in die Küche und sah in jedem Schrank und sogar im Kühlschrank nach, aber er sah nur die Teller, die sie gemeinsam gekauft hatten, die Tassen und Schalen, aus denen sie Eiscreme und Müsli und heiße Suppe gelöffelt hatten. Ein Rest Milch in der Flasche, Thai-Essen, das vom Imbiss übrig geblieben war, eine halbe, in Plastikfolie gewickelte Grapefruit, die sie sich fürs morgige Frühstück aufbewahrt hatte. All diese Dinge sah Arthur, aber Amy sah er nicht – nur Spuren dessen, was sie getragen, was sie gegessen und was ihr Körper getan hatte.
»Wo bist du?«, schrie Arthur und erschrak über sich selbst. »Ich weiß , dass du hier bist!«
Er hörte Harryhausen wieder schreien, folgte diesem Geräusch ins Wohnzimmer, sah Amys Poster von den Monsterfilmen – Kampf der Titanen (dieser Film – ihr Ein und Alles, ihre Religion), Das Ding aus einer anderen Welt , Dinosaurier in New York – und sah sein eigenes Spiegelbild in den Glasrahmen. Er fegte die Kissen von der Couch und fand sechsunddreißig Cents und einen einzelnen blauen Socken. Da war nichts anderes – nichts, was er nicht kannte –, keine Anhaltspunkte, die auf eine Lösung hinwiesen, keine Andeutungen, keine Hinweise.
Nichts zu sehen, was er nicht bereits gesehen hatte.
Jetzt schauderte es ihn, seine Muskeln zogen sich vor Kälte und Angst zusammen, und Arthur kehrte ins Schlafzimmer zurück. Irgendwann hatte er zu weinen begonnen. Er setzte sich auf die Bettkante und beruhigte sich durch gutes Zureden, dass er alles, was es über Amy Henderson zu wissen gab, wusste. Er hatte sie gesehen. Hatte alles von ihr gesehen. Was er nicht wusste, hatte sie ihm nicht erzählt, weil es nichts zu erzählen gab.
Sie hatte es selbst auch nicht gewusst.
Arthur verschluckte sich grundlos.
Harryhausen fauchte ihn an, und Arthur blickte auf und sah Harry vor dem Kleiderschrank – wie dumm von
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