Bilder von dir: Roman (German Edition)
einer Naturwissenschaftsstunde über die Eigenschaften von Licht plötzlich wach. Das Stimmlein in ihrem Kopf, das ständig gewispert hatte Du bist komisch, keiner mag dich, alle halten dich für einen Freak , hörte von dem Moment an, als sie morgens in den Bus stieg, bis sie nachmittags die Eingangstür öffnete, zu flüstern auf. Und als es schwieg, konnte Oneida endlich hören, was sich um sie herum abspielte. Jessi Krenshaw bat Mr. Buckley, ihr den Unterschied zwischen Reflexion und Reflaxion zu erklären – schon wieder –, und Mr. Buckley erwiderte darauf in seinem scheinheiligsten Ton, dass Licht reflaktiere, wenn es in einem Winkel von einer Oberfläche abpralle.
»Was macht reflaktiertes Licht? Ist es denn für irgendwas gut?«, fragte Jessi.
»Reflaxion«, antwortete Mr. Buckley, »ist eins der Hauptprinzipien von Lasern. Es ist die Reflaxionskraft des Lichts, das Laser möglich macht.«
Oneida glaubte, einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf gestülpt bekommen zu haben. Möglichkeit A: Mr. B. hatte niemals Anzeichen einer Sprachstörung gezeigt, was, ihrer Ansicht nach, die einzige Entschuldigung dafür wäre, reflaktieren als Wort anzusehen. Möglichkeit B: Er irrte sich. Er war einfach im Irrtum. Wenn Licht eine Substanz durchdrang und sich dabei zu verbiegen schien, hatte man es mit einer Refraktion zu tun; zu einer Refraktion kam es in Prismen, nicht in Lasern. Sie wusste, dass sie recht hatte, denn sie hatte das letzte Wochenende über dem L-Band der World Book Encyclopedia (Legislative, Licht, Luftbrechung) gebrütet, ganz zu schweigen davon, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Sie blickte sich im Klassenzimmer um. Keiner sonst passte auf: Sie kritzelten in ihre Schulhefte, wickelten Haarsträhnen um Finger, starrten ins Leere. Und Mr. B. wiederholte sich ständig: »Licht trifft auf den Gehweg und reflaktiert in alle möglichen Richtungen«; »Wenn Licht auf einen Spiegel trifft, halten wir das dann für eine Reflexion oder eine Reflaxion?« Oneida hielt sich die Hand vor den Mund, um das prustende Gelächter zurückzuhalten, das sich in ihrem Körper aufbaute, denn ihr war es plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen: Wenn die Tatsache, dass sie ein Freak war, bedeutete, dass sie als Einzige im Raum bemerkte, dass ihr Lehrer ein absoluter Blödmann war, dann wollte sie gern ein Freak sein und auch noch stolz darauf. In diesem Moment wählte sie bewusst das einsame, überlegene Leben eines Freaks. Es war ein Leben, das sie ohnehin schon führte, aber jetzt akzeptierte sie es auf der Grundlage, dass es besser war, allein zu sein und recht zu haben, als zusammen mit Freunden dumm zu sein.
Das war das Credo, unter dem ihre ganze Existenz Gestalt annahm, das Mantra, das sie während der gesamten Schulzeit bis zur Highschool aufsagte, wann immer ihre Mutter sie fragte, ob sie Schwierigkeiten habe: sie habe nie Freunde zu Besuch, bitte niemals darum, ins Kino oder Einkaufszentrum gefahren zu werden. Besser einsam und wissend als dumm mit Freunden, pflegte sie sich dann zu sagen, und antwortete Mona, dass die anderen Jugendlichen uninteressant seien. Sie werde von ihnen nicht verstanden, und es mache keinen Sinn, so zu tun, als läge ihr etwas an so unwichtigen Dingen wie, wer kommt mit wem zum Klassentreffen oder wer hat was auf Facebook gepostet und anderem langweiligem Blabla.
»Sie können doch nicht alle so schlimm sein«, antwortete Mona dann darauf. »Auch bei mir in der Klasse gab es jede Menge Langweiler, aber es gab nichtsdestotrotz ein paar Seelenverwandte. Du musst nur herausfinden, wie ihr einander erkennt.« Abgesehen davon, dass Oneida das kaum glauben konnte, störte sie sich an der Unterstellung ihrer Mutter, ihr Mangel an Freunden sei auf mangelhaftes Bemühen ihrerseits zurückzuführen. Was wusste ihre Mutter schon? Mona musste nicht Tag für Tag von einem Kurs in den nächsten hetzen, sich mühsam wachhalten und Interesse zeigen, obwohl sie sich doch viel lieber mit einem Buch verkrümelt und sich selbst das beigebracht hätte, was sie wirklich wissen wollte – nämlich zufällig alles , was aber, da war sie sich ziemlich sicher, im Lehrplan der Ruby Falls High nicht vorgesehen war.
Aber dann zog in ihrem zweiten Jahr Andrew Lu hierher, und Oneida verstand, was ihre Mutter mit dem Erkennen von Seelenverwandtschaft meinte.
Andrew Lu war bildschön. Er war Sportler mit einer Haut in der Farbe von Tee mit Milch und warmen dunklen Augen. Außerdem war er der
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