Bildnis eines Mädchens
darauf.
Nika schob den Zettel mit Fabrizio Bonins Adresse, Campo San Rocco, Dorsoduro, Venezia, nicht ohne ihn zuvor sanft an ihre
Wange zu legen, in den Briefumschlag von Signore Robustelli und diesen zu den wenigen Sachen, mit denen sie sich am kommenden
Tag auf den Weg machen würde.
Als der nächste Morgen anbrach, nahm sie ihr Bündel, schloss leise die Tür ihrer Kammer, verließ das Hotel, das ihr Leben
verändert hatte, und ging noch einmal zum See. Das Wasser, aufgeraut vom Wind, klatschte gegen das Ufer, die Wellen trugen
kleine Schaumkronen, als seien sie das endlose, weite Meer. Nika kniete fröstelnd auf dem Bootssteg nieder und hielt die Hand
in das kalte Wasser.
Segantini fuhr nicht im Vierspänner vorbei.
Gian wartete auch nicht auf sie in Benedettas Haus. Er hatte die Kühe von Grevasalvas hinuntergetrieben und war bei Benedettas
Schwester in Soglio, der die Kühe gehörten. Gian und auch Nika waren die Tränen gekommen, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Benedetta hatte ihr zum Abschied eine Bluse und einen warmen Rock von sich geschenkt und einen Beutel für ihre Sachen. Sie
hing an nichts mehr, seit Luca gestorben war.
Andrina war ihr aus dem Weg gegangen, so hatten sie sich nicht einmal Auf Wiedersehen gesagt.
Es war Zeit, Maloja zu verlassen. Gleich würde die Postkutsche sie so, wie sie es sich immer erträumt hatte, hinunter nach
Italien tragen, würde das Pfeifen des Zuges die Luft zerschneiden und würden die Gleise die Landschaft zerlegen in eine Welt,
die sie hinter sich ließ, und eine, die sie neu erobern musste. Es war ein guter Gedanke, dass es in der neuen Weltschon einen Menschen gab, der sich darauf freute, sie dort willkommen zu heißen.
Nun war es Zeit, die Botschaft zu lesen, die ihre Mutter ihr auf den Weg gegeben hatte, die Sonne ging schon im milchigen
Himmel auf und sie musste hinauf zur Poststation, wenn sie die Postkutsche nicht noch verpassen wollte.
Nika hatte Mühe, die schwungvolle, elegante Schrift des Grafen zu entziffern, aber schließlich gelang es ihr, und sie las
sich leise die Worte vor:
Du wirst mich suchen und Dich finden.
In Liebe
Deine Mutter
»Nika ging also nach Venedig«, sagte Achille Robustelli zu dem Sammler, der seiner Erzählung geduldig zugehört hatte. »Vielleicht
hat sie dort ihr Glück gefunden. Ich habe jedenfalls nichts mehr von ihr gehört.«
»Und Sie?«, fragte der Sammler, »Sie, Robustelli? Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe mein Wort gehalten und geheiratet.«
»Und warum hängt das Bild hier in Ihrem Büro? Ist Ihre Frau denn damit einverstanden?«
»Nein, das wäre sie sicher nicht. Aber sie ist nicht mehr hier. Sie hat sich in einen Gast verliebt und ist mit ihm nach Mailand
gegangen.«
»Und Sie haben nicht versucht, sie zurückzuholen?«, fragte der Sammler.
»Nein«, antwortete Achille Robustelli. »Aber als Segantinis Bild ›La Vanità‹ fertig war, fragte ich ihn, ob er es bis zum
Verkauf als Leihgabe dem Hotel überlassen würde. Besser gesagt, mir …«
»Und er hat Ihrem Wunsch entsprochen«, ergänzte der Sammler, »zu Recht! Er hat Ihnen ebenso zu danken wie das Mädchen auf
diesem Bild.«
Achille Robustelli lächelte nur.
»Und morgen nehme ich Ihnen auch noch Nikas Bildnis. Was werden Sie nun tun? Ihre Frau ist fort, Nika, das Bild …«
Achille Robustelli zuckte die Achseln und strich sich ironisch über die ergrauten Schläfen.
»Ich werde älter. Sehen Sie, die grauen Haare sind schon da. Ich habe immer öfter Heimweh. Vielleicht kehre ich eines Tages
einfach nach Italien zurück. Segantini hat hier oben eine Heimat gefunden. Ich nicht. Manchen Menschen gelingt es, ihre Heimat
zu finden, bei sich selbst, im Blick eines liebenden anderen, in der Natur, in der Familiengeschichte. Oder in der Kunst.
Wahrscheinlich ist das Hotel meine Heimat, dieser Ort, an dem Menschen sich begegnen, finden, wieder aus den Augen verlieren … Aber kommen Sie, gehen wir hinüber ins Restaurant. Sie müssen hungrig und durstig sein. Es war eine lange Geschichte. Machen
Sie mir die Freude und essen Sie mit mir zu Nacht.«
Drei Jahre später
Maloja, im September 1899
Es war James, der das Treffen schließlich tatsächlich zustande brachte. Nicht nach einem Jahr, wie er es mit Edward und Fabrizio
Bonin verabredet hatte, aber drei Jahre später, im Herbst 1899.
James hatte nach seinem Aufenthalt in St. Moritz endlich wieder einmal seine Eltern in
Weitere Kostenlose Bücher