Bildnis eines Mädchens
Haar war prächtig wie eh und je, die Farbe ihres Kleides schmeichelte ihrer hellen Haut und
brachte das Blaugrün ihrer Augen besonders zur Geltung. »Ich freue mich, Sie zu sehen!«, sagte sie noch einmal mit Nachdruck.
Da endlich ergriff er ihre Hand, mit seinem etwas scheuen Lächeln, das sie immer wieder erstaunte. Er hatte doch mit so vielen
Menschen zu tun, wie konnte er da schüchtern sein.
»Signora …«
»Damaskinos?«, fuhr sie an seiner Stelle fort. »Ja, ich nenne mich so, obwohl …« Sie verstummte.
Achille bot ihr Platz an, setzte sich ebenfalls, stand wieder auf, fragte, ob sie etwas trinken wolle, aber sie schüttelte
den Kopf. »Sie sind ja ganz durcheinander«, rief sie aus, »was ist denn?«
Er räusperte sich. »Sie wissen doch, immer am Ende der Saison, diese Unordnung … Erzählen Sie mir, Signora …«
»Könnten Sie Nika sagen? Das wäre mir lieb …« Für eine Sekunde schien es Nika, als füllten sich seine Augen mit Tränen. »Aber sagen Sie mir zuerst«, fuhr sie lebhaft fort, »wo ist Andrina? Haben Sie geheiratet? Aber ja, natürlich, Sie tragen ja
einen Ehering.«
»Sie ist in Mailand«, antwortete er fast schroff, »erzählen Sie mir lieber Ihre Geschichte. Haben Sie Ihre Mutter gefunden?
Ihre Familie?«
Wie anteilnehmend er ist, dachte Nika beschämt. Warum hatte sie ihm eigentlich nie geschrieben? »Ich weiß nicht, warum ich
mich nicht eher bei Ihnen gemeldet habe«, erwiderte sie. »Vielleicht weil ich nicht wollte, dass Andrina mehr über mich erfährt.
Wenn es eine triumphale Geschichte wäre, die ich erzählen könnte, hätte mich das vielleicht weniger gestört, aber es ist eine
traurige Geschichte.«
Sie sah auf den hellen Fleck an der Wand, als blicke sie wie durch ein Fenster auf die letzten Jahre zurück.
»Meine Mutter lebt schon lange nicht mehr. Sie starb an der Cholera, 1884. Sie war noch so jung damals …« Nika stockte einen Moment. »Sie hat in Venedig geheiratet, als sie von einer langen Europareise zurückkehrte. Einen jüngeren
Geschäftsfreund ihres Vaters, meines Großvaters. Sie gebar zwei Söhne, rasch hintereinander, die Kinder waren noch klein,
als die Cholera sie in den Tod riss. Ich habe nur eine Fotografie …«
Nika öffnete ihren Samtmuff, holte das Bild heraus und hielt es Achille hin. Er sah eine ernste junge Frau, die sich mit der
Rechten auf eine Stuhllehne stützt und den Betrachter direkt anblickt. Ihre Kinder waren nicht auf dem Bild. Es war nicht
zu erraten, ob sie glücklich oder unglücklich, traurig oder zufrieden war. Unter dem Hut quoll dichtes dunkles Haar hervor.
Die Schwarzweißfotografie verriet ihre Augenfarbe nicht, doch war sie heller als das Haar.
»Sie war schön«, sagte Achille. »Sie könnten ihre Augenfarbe geerbt haben. Und der Mund, der Mund ist ähnlich.«Die Fotografie war von einem Antonio Sorgato im Jahr 1882 angefertigt worden.
»Den Laden gibt es noch«, sagte Nika und deutete auf die Signatur. »Aber den Signore Sorgato konnte ich nicht mehr nach meiner
Mutter fragen, er ist schon gestorben …« Sie strich mit dem Finger vorsichtig über das sepiabraune Bild.
»Wie haben Sie das alles erfahren? Wen haben Sie angetroffen, wie hat die Familie Sie aufgenommen?«
Nika lehnte sich müde zurück, als kämen die Erschöpfung, der Schmerz und die Enttäuschung von damals wieder über sie.
Mein Gott. Welch ein Abenteuer allein die Reise gewesen war! In Chiavenna, beim Hotel Conradi, genau wie Signore Robustelli
es ihr aufgeschrieben hatte, war sie aus der Postkutsche gestiegen, hatte das erste Bahnbillet ihres Lebens gelöst und den
Zug nach Colico bestiegen. Zischend hatte die Bahn sich in Bewegung gesetzt. Nika war vor Schreck fast erstarrt. Dann flitzten
Telegrafenmasten vorbei, und es wurde ihr schwindlig. Diese Geschwindigkeit! Übelkeit stieg in ihr auf. Gegessen und getrunken
hatte sie auch noch nichts. Aber hier im Zug wagte sie nicht, ihr Brot auszupacken und schon gar nicht das Stück Käse, das
Benedetta für sie in ein Tuch gewickelt hatte.
Nach einer Stunde waren sie am Ziel. Ein Pferdeomnibus wartete am Bahnhof von Colico und brachte die Weiterreisenden zur Schiffsanlegestelle.
Nikas Herz schlug bis zum Hals. Vor ihr lag der Comer See. Das Dampfschiff. Die Motoren liefen schon. Die Reisenden eilten
über den Landesteg, Nika unter ihnen, ihr Bündel an die Brust gepresst, in einer Faust das Billet, den Fahrschein in
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