Bildnis eines Mädchens
machen sollte – du hast ja keine Papiere.«
Er atmete tief ein und beeilte sich, zum Ende zu kommen.
»Auch etwas Geld befindet sich in dem Umschlag, schweizerisches und italienisches. Wenn das Hotel gut gewirtschaftet hat,
erhalten alle am Ende der Saison eine kleine Zuwendung als Dank.«
Nika sah ihn an, als glaube sie ihm nicht, doch er fuhr fort: »Und der Graf hat dir übersetzt und aufgeschrieben, was auf
dem Zettel in deinem Medaillon steht.«
Er trat ans Fenster und sah hinaus, als erwarte er, dass sie wortlos ging.
»Signore Robustelli?«
Er drehte sich nicht zu Nika um.
»Signore Robustelli! Sie werden mich doch anschauen, um mir Lebewohl zu sagen!«
Nika trat neben ihn. Die Saison war zu Ende, das Hotel schloss seine Pforten. Die Gäste reisten ab. Pferde, Kutschen, Dienerschaft,
Gepäck, es war ein großes Durcheinander, was man da sah.
»Welche Unordnung«, murmelte Achille Robustelli, »am Ende des Sommers!«
»Was sagen Sie?«, fragte Nika, ohne ihn anzusehen.
»Ich sagte, welche Unordnung! Was für ein Durcheinander die Menschen immer wieder veranstalten!«
»Aber das ist doch normal«, erwiderte Nika. Sie lachte und schlang den losen Knoten ihrer Haare neu. Ihr Gesicht und ihre
Augen waren klar wie der See. Und ihre Haut würde im Winter hell und weiß sein.
»Ich muss weitermachen«, sagte Achille, als könne er nicht länger so nahe bei ihr stehen.
»Natürlich, Signore Robustelli, ich wollte Sie nicht aufhalten«, sagte Nika, wagte aber hinzuzufügen: »Sie sind sicher müde.
Es ist Zeit, dass das Hotel schließt. Ich habe gehört, dass Sie und Andrina heiraten wollen?«
»Ja, das ist wahr.« Das Gespräch schien Achille Robustelli immer unangenehmer zu werden.
»Dann wünsche ich Ihnen alles Gute«, sagte Nika. Und als er nichts darauf antwortete: »Auf Wiedersehen also und … danke. Danke für alles.«
»Schon gut, es ist gern geschehen«, unterbrach er sie.
Sie gaben sich die Hand.
»Ach, Nika«, rief er, als sie die Tür schon geöffnet hatte. »Signore Bonin hat nach dir gefragt. Er wollte wissen, woher ich
das Medaillon hätte. Ich habe ihm gesagt, dass es dir gehört.«
***
Nika war traurig. Sie konnte sich nicht erklären, warum Signore Robustelli plötzlich so abweisend war. Erst jetzt, als er
sie so, ohne irgendein Gefühl zu zeigen, entließ, wurde ihr bewusst, wie viel Zuneigung sie in den vergangenen Monatenvon ihm tatsächlich erfahren hatte. Dass sie nicht nur Gian und Benedetta, sondern auch Signore Robustelli vermissen würde.
Für einen Moment dachte sie an Segantini, verdrängte den Gedanken aber sogleich wieder und ermahnte sich, lieber ihre wenigen
Sachen zu packen. Und erst dann, wenn sie wirklich zur Abreise bereit war, wollte sie lesen, was ihre Mutter ihr vor Jahren
mit auf den Weg gegeben hatte.
Gedankenverloren stand sie noch einen Augenblick lang vor der Tür von Robustellis Büro. Sie schreckte auf, als sie eine leichte
Berührung an der Schulter spürte.
»Nun habe ich Sie doch noch gefunden!«
Fabrizio Bonin strahlte. Nika machte einen Schritt zurück, als wolle sie weglaufen, aber er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Schön hierbleiben! Ich muss mich entschuldigen für eine Indiskretion, die ich begangen habe. Ich habe erfahren, dass das
Medaillon mit dem Wappen der Damaskinos Ihnen gehört – dass Sie also beste Verbindungen nach Venedig haben, ohne dass Sie
das anscheinend bisher gewusst haben. Signore Robustelli hat es mir gesagt …« Über einen plötzlichen Gedanken schmunzelnd, fügte er hinzu: »Also hat eigentlich Signore Robustelli die Indiskretion begangen,
und ich war nur neugierig. Was für einen Journalisten eine lässliche Sünde ist, finden Sie nicht?«
Nika konnte sich nicht helfen, sie musste ihn einfach anlächeln. Nur ein Stein würde sich nicht durch ihn erweichen und aufheitern
lassen.
»Sie werden also ganz sicher eines Tages nach Venedig kommen«, fuhr er fort. »Darf ich Ihnen dann die Stadt zeigen?«
»Die Stadt, in der das Wasser den Himmel einfängt?«, fragte Nika zurück. Er nickte ernsthaft. »Ja. Ich werde Ihnen die schönsten
Ecken zeigen, bei deren Anblick jedem guten Fotografen vor Entzücken das Herz bricht. Und damit wir uns auch nicht verpassen,
habe ich Ihnen meine Adresse aufgeschrieben.«Er gab ihr einen Zettel und beugte sich zu ihr vor. »Ich kann es nicht erwarten, Sie wiederzusehen«, flüsterte er.
Sie lächelte und antwortete nichts
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