Bildnis eines Mädchens
unbewegten Wasser betrachtete. Da waren
Kiesel. Fische. Helles Türkis. Dann nahm die Bläue rasch zu, und man sah den Boden nicht mehr. Nika kannte kein Wasser wie
dieses. Die sprudelnden, gurgelndenBergbäche, die rauschenden Wasserfälle, deren Ton im Frühjahr anschwoll, die kleinen Alpseen, die einen wie klare blaue Augen
ansahen, sie waren anders. Dieser See sah einem nicht entgegen. Er war ganz der Tiefe zugewandt und bewahrte sein Schweigen,
so wie sie.
Nika war, nachdem Luca sie in den Stall gebracht hatte, so fest eingeschlafen, dass Gian, der am Abend fragen wollte, ob sie
Hunger habe, die Stalltür leise wieder schloss. Erst gegen Mittag des folgenden Tages erwachte sie. Fand eine Scheibe Brot
und einen Napf Milch neben sich. Der eingebundene Fuß schmerzte noch immer, aber das Stechen hatte nachgelassen, der Schmerz
war jetzt dumpf und pochend. In plötzlichem Schrecken tastete Nika nach ihrem Hals – die Kette war noch da. Unter ihren Fingern
die zarte Gravur des Medaillons: die Rose mit der gefüllten Blüte, die sie mit geschlossenen Augen nachzeichnen konnte, so
oft hatte sie sie betrachtet.
Sie war unaufmerksam gewesen. Gian und Luca, auch die Frau hatten das Medaillon bestimmt gesehen. Nie wieder durfte sie so
unachtsam sein! Sorgfältig knöpfte Nika die Bluse mit dem Stehkragen zu. In Mulegns, wo sie herkam, hatte sie ein sicheres
Versteck gehabt, aber hier war es klüger, die Kette unsichtbar auf dem Körper zu tragen.
Nika hatte lange nichts von dem Medaillon gewusst. Bis die Posthalterin in Mulegns ihr davon erzählte. Nika mochte damals
acht oder neun gewesen sein.
»Ich war es, die dich gefunden hat, kaum waren die Pferde gewechselt und die Postkutsche weitergefahren«, hatte die Posthalterin
gesagt. »Die Kutsche ging über den Julier ins Engadin hinüber. Und hier, wo alle Reisenden aussteigen, den Mittagshalt machen
und eine Suppe essen, haben sie dich ausgesetzt,einen Säugling, eingewickelt in eine Decke, mit dem Medaillon und einem Umschlag mit Geld.«
»Was für ein Medaillon«, hatte Nika geantwortet, »ich habe kein Medaillon.«
»Das will ich wohl glauben«, gab die Posthalterin zurück, »dass sie dir das nicht gegeben haben. Ein Findelkind, das Schmuck
trägt – wo hätte es das je gegeben?« Sie lachte. »Der Bauer hat sich für das Kostgeld eine Arbeitskraft aufgezogen, keine
vornehme Dame, die ihm auf den Kopf spuckt.« Und damit war sie lachend ins Haus gegangen.
Nika aber hatte geduldig gewartet, bis der Bauer und seine Familie eines Tages zu einer Hochzeit im Nachbardorf eingeladen
waren. Kaum waren alle fort, hatte sie sich in die Stube geschlichen und alles durchsucht. Viele Möglichkeiten gab es nicht.
Wenn das Medaillon nicht in der Truhe war, konnten sie es nur im Schlafzimmer unter der Matratze versteckt haben. Der Bauer
war arm, ein Tisch, ein paar Stühle, wenige Betten, die sich viele teilten – viele Möbel hatten sie nicht.
Hastig durchsuchte sie die Truhe, und tatsächlich, unter den Hemden, Socken und Wollmützen fand sie eine zerdrückte Schachtel,
und darin lag eine goldene Kette mit dem Medaillon. Nika stiegen die Tränen in die Augen, als sie es in der Hand hielt. Das
hier war das Einzige, das ihre Eltern ihr als Erinnerung an sie mitgegeben hatten. Aber immerhin hatten sie es ihr mitgegeben.
Und das hieß, sie, Nika, war ihnen nicht gleichgültig.
Dieses Medaillon gehörte ihr und keinem anderen Menschen auf der Welt, auch wenn der Bauer es ihr weggenommen hatte. Sie ließ
die Kette in die Tasche ihrer Schürze gleiten, legte die leere Schachtel zurück und brachte den Inhalt der Truhe wieder in
Ordnung.
Im Winter schlief sie unter der Treppe im Haus, jetzt, imSommer in einer abgeteilten Ecke im Stall – beides keine guten Orte, um ihren Schatz zu verstecken. Deshalb vergrub sie die
Kette, eingewickelt in einen Fetzen Stoff, hinter dem Stall und bezeichnete die Stelle mit einem Stein.
Nika zitterte vor Angst, wenn sie daran dachte, dass jemand das Verschwinden der Kette bemerken könnte, und doch spendete
das Medaillon ihr von nun an Trost. Bald konnte sie gar nicht mehr verstehen, wie sie die Kälte des Bauern ohne diesen Trost
hatte ertragen können. Wenn sie geschlagen wurde, wenn sie Hunger hatte, dann dachte sie an ihr geheimnisvolles Schmuckstück.
Ab und zu, wenn niemand auf dem Hof war, holte sie die Kette aus ihrem Versteck, betrachtete sie und öffnete in immer neuer
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