Bildnis eines Mädchens
Erwartung eines Wunders vorsichtig das Medaillon. Aber jedes Mal war darin zu ihrer Enttäuschung nur ein klein zusammengefalteter
Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. Nika ging in keine Schule. Aber eines Tages, das schwor sie sich, würde sie lesen
und schreiben lernen, um zu erfahren, was darauf geschrieben stand.
Das war nun schon zehn Jahre her. Ein kleines Mädchen war sie damals gewesen, jetzt war sie eine junge Frau. Und obwohl sie
nun hier in Maloja festsaß, war sie Gian und Luca dankbar, dass sie sie hergebracht hatten. Vorsichtig humpelte Nika aus dem
Stall zum Haus hinüber, erleichtert, dass sie weder drinnen noch draußen jemanden antraf.
Es gab gar keine andere Möglichkeit, als das Angebot, noch ein paar Tage hierzubleiben, anzunehmen. Für die Postkutsche hatte
sie kein Geld, und zu Fuß würde sie mit ihrer Verletzung nicht weit kommen. Doch der Weg, der vor ihr lag, war weit. Italien
– es war nahe und doch ein unerreichbares Land. Traumland.
Über dem Spülstein, an dem sie sich wusch, hatte jemand ein Brett angebracht. Ein altes, hartes Stück Seife lag darauf und
eine Spiegelscherbe. Sie lehnte das schartige Dreieck gegen die Wand und fuhr mit den Fingern durch ihr dichtes Haar. Den
Kamm, der neben der Seife lag, wagte sie nicht zu berühren. Sie betrachtete sich aufmerksam. Sie war mager, das Kinn stach
spitz hervor, und man ahnte ihre helle Haut trotz der ersten Sonnenbräune. Nika hielt den Zeigefinger unter das eisige Wasser
und benetzte damit ihre Lippen. Sie schaute sich zu wie einem fremden Wesen, dessen fremde Zunge zwischen den fremden Lippen
erschien, vorsichtig, weich, und die Tropfen ableckte. Dieses Gesicht war ihr Gesicht. Oft hatte sie sich noch nicht im Spiegel
betrachtet. Da, wo sie aufgewachsen war, hatte man andere Sorgen gehabt als das eigene Aussehen und das Geld für dringendere
Sachen gebraucht als einen Spiegel. Sie hielt das Gesicht so nahe vor die Spiegelscherbe, bis ihre Züge verschwammen und sie
sich nicht mehr erkannte. Das Glas beschlug von ihrem Atem. Blaugrün leuchteten ihre Augen ihr wie aus dem Nebel entgegen.
Sie erschrak, als jemand die Küche betrat, und tat rasch einen Schritt zurück. Aber es war nur Gian, der sich ihr behutsam
näherte wie einem erschreckten Tier, mit beruhigend ausgestreckter Hand.
»Schön, dass du auf bist«, sagte er. »Du musst noch hierbleiben, so schnell heilt der Knöchel nicht, aber ein bisschen bewegen
kannst du dich schon. Komm, ich zeig dir den See.«
Sie humpelte neben ihm aus dem Haus in das Licht des Nachmittags. Sie mussten nur über die Straße und am Hotel Kursaal vorbei,
das wie ein majestätischer Riegel die Kette der Seen und das Engadiner Hochtal beschloss. Nika fasste nach Gians Arm, um sich
auf ihn zu stützen, und er, verwundert und stolz, gab ihr Halt. Kein Mädchen in Maloja hatte je seinenArm genommen oder seine Hand gehalten, weil er nicht ganz richtig war und manchmal mit Schaum vor dem Mund und zuckendem Leib
zu Boden fiel. Der ältere der Biancotti-Söhne, hieß es, sei besessen von einer Krankheit, die kein Doktor heilen könne. Aber
der protestantische Pfarrer sagte immer wieder, das habe nichts mit Besessenheit zu tun, sondern nur mit Krankheit, und man
könne eben noch immer nicht alle Krankheiten heilen.
Nun lag der See vor ihnen. Nika ließ seinen Arm los, und Gian begriff, dass sie allein sein wollte.
»Da ist ein Bootssteg«, sagte er. »Du kannst die Hand ins Wasser halten, dann merkst du, wie kalt und klar es ist. Findest
du den Weg allein zurück?«
Nika nickte und kniete auf dem Bootssteg nieder.
Als sie sich wieder erhob, sah sie, dass ein eleganter Vierspänner in Maloja einfuhr. Ein Mann beugte sich aus dem offenen
Fenster der Kutsche und drehte den Kopf nach ihr um. Das Einzige, was sie bemerkte, waren die dichten schwarzen Locken, dann
war der Wagen vorbei.
***
Segantini war in St. Moritz gewesen. Er liebte eine gewisse Extravaganz, unabhängig von seiner finanziellen Lage. So hatte
er auch heute einen vierspännigen Wagen kommen lassen, um sich von Maloja, wo er wohnte, in das größere und nicht viel weiter
als eine halbe Stunde entfernte St. Moritz kutschieren zu lassen. Er wollte Dr. Bernhard treffen und ihm von einer Idee erzählen, die ihm schon eine Weile durch den Kopf ging. Sie hatten sich in Fritz Hanselmanns
Bäckerei getroffen, dessen Patisserie sie beide liebten, und sich dann im Hause des
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