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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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ihrer Schulter, näher an ihn heran, ohne die Augen zu öffnen. Es war noch früh, die Dämmerung brach erst
     an. Segantini mochte das Zwielicht nicht, schon gar nicht, wenn er Albträume gehabt hatte. Seine Hand blieb in der Ritze liegen,
     die die beiden Ehebetten trennte. Er atmete tief durch. Langsam nahm er die schattenhaften Umrisse der Möbel im Schlafzimmer
     wahr. Und während der Morgen kam und die ersten Sonnenstrahlen die maurisch anmutenden Schnitzereien deutlicher hervortreten
     ließen, verblasste sein Traum.
     
    Der Maler Giovanni Segantini arbeitete langsam und ohne vorher Skizzen anzufertigen, wiederholte jedoch seine Motive in verschiedenen
     Bildern und fertigte Zeichnungen von den vollendeten Gemälden an. Heute Nacht jedoch hatte sich eines seiner Bilder ohne sein
     Zutun verwandelt. Wie konnte sein Traum es wagen, eines seiner Gemälde anzutasten, das Eis, den ewigen Schnee, den er gemalt
     hatte, frühlingshaft zu erweichen und zum Schmelzen zu bringen?
    Das Fegefeuer des bläulichen Eises, in dem die wolllüstigen Frauen, die bösen Mütter, schwebten, die Weiber, deren Brüstetrocken blieben, die nicht Mutter sein wollten, wie die Bestimmung es ihnen vorgab. Wieder und wieder hatte er das Gedicht
     von Luigi Illica gelesen, wo er die Anregung für sein Bild gefunden hatte. Es sollte die Übersetzung eines indischen Textes
     sein, und das Bild der Kälte, in der die Weiber mit entblößten Brüsten und blau gefrorenen Lippen für ihre eigene Kälte büßten,
     ließ ihn nicht los, bis er es auf die Leinwand gebracht hatte – zum Missfallen seines Freundes, Förderers und Händlers Vittore
     Grubicy, der die mythischen Figuren nicht mochte. Sie hatten sich darüber fast zerstritten.
    Im Traum waren sie heute Nacht lebendig geworden, die karge, tote Winterlandschaft hatte sich begrünt, und die marmorne Haut
     der Weiber war zu warmem, pulsierendem Leben erwacht. Sie räkelten sich und erwachten lustvoll aus ihrer Erstarrung. Da war
     er mit Schaudern aufgewacht.
     
    Wieder suchte seine Hand nach Bice, die neben ihm lag. Vier Kinder hatte sie ihm geschenkt und ihr Leben, seit sie siebzehn
     war. Natürlich war sie da. An seiner Seite, die Decke bis ans Kinn gezogen. Wie blond und zierlich sie damals gewesen war,
     selbst noch ein halbes Kind. Er hatte nicht weit herumgesucht. Sie war die Schwester seines Freundes Bugatti. Der hatte erlaubt,
     dass sie ihm Modell saß für die »Falknerin«, 1881, da war er selbst immerhin schon dreiundzwanzig Jahre alt. Es war nicht
     schwer gewesen, sich in Luigia Bugatti zu verlieben. Er hatte sie gefragt, ob sie bei ihm bleiben wolle. Sie hatte Ja gesagt.
     Er nannte sie Bice, nach der Heldin eines Romans, der ihm gefallen hatte.
    Sie hatte alles für ihn zurückgelassen, als sie von Mailand weggingen. Auch ihren Vornamen. Bald wusste niemand mehr, wie
     sie wirklich hieß. Bis hierher in die hohen Berge, nach Maloja war sie ihm gefolgt. Ihrem »Segante«, wie sie ihn zärtlich
     nannte, den es immer höher hinaufgezogen hatte,weg aus den bedrückenden Niederungen. Wie gut sie ihn kannte, seine Gefährtin, und wie bedingungslos sie auf ihn einging.
    Seine Mutter hatte ihn dagegen kaum gekannt, so früh war sie gestorben. Und obwohl er damals ein kleiner Junge gewesen war,
     noch heute würde er sie wiedererkennen, wenn sie vor ihm stünde. Schön war sie gewesen; nicht wie die Morgenröte oder der
     Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Frühling. Genauso wollte er es in seiner Autobiografie aufschreiben: wie ein Sonnenuntergang
     im Frühling. Eine hohe Gestalt, aber kränklich, seit sie ihn zur Welt gebracht hatte. Nicht nur er war bei der Geburt fast
     gestorben, sodass er die Nottaufe erhalten musste, auch sie erholte sich kaum mehr, Kuren in Trient schlugen nicht an. Mit
     fünf, wenn er sich recht erinnerte, hatte er sie verloren. War sie gestorben, hatte sie ihn zurückgelassen.
    »Die Falknerin« hätte auch zu seiner Mutter gepasst, zu ihrer Abstammung aus dem mittelalterlichen Landadel, aus dem früher
     die kriegerischen Glücksritter hervorgegangen waren. Vor langer Zeit.
    Segantini drehte sich seiner Frau zu, doch Bice war schon aufgestanden, und das Laken neben ihm war kühl, als hätte sie nie
     dort gelegen.
    ***
    Der See lag still im Nachmittagslicht. So still, dass die junge Frau sich auf den Bootssteg hinkniete, weit über die spiegelglatte
     Oberfläche beugte und ihr Gesicht, während sie die langen Haare zur Seite hielt, im

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