Billard Um Halb Zehn: Roman
keinen Flirt anzulegen und jegliche Einladung strikt abzulehnen; nicht anfassen, bitte, nur ansehen; no, Sir, no, no - und spürte doch selbst den Hauch der Verwesung, spürte Mitleid mit traurigen Ausländern, die kopfschüttelnd ihren Liebeshunger in jene Gefilde trugen, wo Venus noch herrschte und, des Wechselkurses kundig, ihren Tarif in Dollars und Pfunden, in Gulden, Franken und Mark zu verkünden sich nicht schämte. Da riß der Kassierer die Eintrittskarten von der Rolle, als führte die schmale Eingangspforte ins Kino, da blieb einem kaum Zeit, im Personalzimmer rasch ein paar Züge zu tun, einen Bissen ins belegte Brot, einen Schluck aus der Thermosflasche, und immer wieder die schwierige Entscheidung, ob es sich lohne, den Zigarettenstummel aufzubewahren, oder ob es angebracht sei, ihn mit spitzem Absatz zu töten; noch einen Zug, noch einen, während die linke Hand den Lippenstift schon aus der Handtasche angelte, während das Herz sich trotzig entschloß, den vestalischen Schwur zu brechen, während der Kassierer den Kopf in die Tür steckte: »Kind, Kind, zwei Gruppen warten schon, beeil dich - die römischen Kindergräber sind ja fast ein Kassenschlager«, lächelnd an die Barriere getreten, die Frage nach Nationalität und Muttersprache: vier sprachen Englisch, einer Französisch, eine Holländisch und diesmal sechs Deutsche; die Stablampe gesenkt wie einen Degen, stieg sie in die dunkle Gruft hinab, von uraltem Liebeskult zu künden, uralten Todesschmerz zu entziffern.
Marianne weinte noch, als sie an der Schlange der Wartenden vorbei nach draußen gingen; beschämt wandten wartende Deutsche, Engländer und Holländer sich von dem Mädchengesicht ab; welch schmerzliches Geheimnis bargen die dunklen Keller dort unten? Wo hatte man je gelesen, daß Kulturdenkmäler Tränen hervorrufen konnten? Für sechzig Pfennig solch tiefe Bewegung, wie man sie im Kino nur nach sehr schlechten und nach sehr guten Filmen auf einzelnen Gesichtern bemerkte?
Konnten Steine tatsächlich den einen zu Tränen rühren, während andere kaltblütig frischen Kaugummi in ihre Münder schoben, gierig Zigaretten anzündeten, in ihren Blitzlichtkameras den nächsten Film knipsbereit drehten, das Auge schon spähend aufs nächste Objekt gerichtet: Giebel eines bürgerlichen Wohnhauses aus dem fünfzehnten Jahrhundert, gleich dem Eingang gegenüber; knips, schon war der Giebel auf chemischer Basis verewigt...
»Langsam, langsam, meine Herrschaften«, rief der Kassierer von drinnen, »infolge des außerordentlichen Andrangs haben wir uns entschlossen, an einem Rundgang anstatt zwölf fünfzehn Besucher teilnehmen zu lassen; ich darf die nächsten drei Herrschaften bitten - sechzig der Eintritt, einszwanzig der Katalog.«
Immer noch an der Schlange der Wartenden vorbei, die sich an der Hausmauer entlang bis zur Straßenecke hin aufgestellt hatte; immer noch zeigte Mariannes Gesicht die Tränen, mit einem Lächeln erwiderte sie den heftigen Druck von Josephs Arm, dankte mit einem zweiten Lächeln für Ruths Hand auf der Schulter.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Ruth, »es sind nur noch zehn Minuten bis sieben, wir dürfen sie nicht warten lassen.«
»In zwei Minuten sind wir da«, sagte Joseph, »wir kommen schon pünktlich; Mörtel - der Geruch soll mir wohl auch heute
nicht erspart bleiben - und Beton; wißt ihr übrigens, daß sie diese Entdeckung da unten Vaters Sprengeifer verdanken; als sie die alte Wache wegsprengten, brach unten ein Gewölbe durch und öffnete ihnen den Weg zu den alten Klamotten; es lebe das Dynamit - wie findest du übrigens unseren neuen Onkel, Ruth, spricht die Stimme des Blutes zu dir, wenn du ihn siehst?«
»Nein«, sagte Ruth, »die Stimme des Blutes spricht nicht zu mir, aber ich finde ihn nett; etwas trocken, etwas hilflos - wird er bei uns wohnen?«
»Wahrscheinlich«, sagte Joseph, »werden wir auch dort wohnen, Marianne?«
»Du willst in die Stadt ziehen?«
»Ja«, sagte Joseph, »ich will Statik studieren und in das ehrenwerte Geschäft meines Vaters eintreten, gefällt dir das nicht?«
Sie überquerten eine belebte Straße, gingen in einer stilleren weiter, Marianne blieb vor einem Schaufenster stehen, löste sich aus Josephs Arm, schüttelte Ruths Hand ab und betupfte ihr Gesicht mit einem Taschentuch; Ruth strich sich übers Haar, zupfte ihren Pullover zurecht.
»Ob wir elegant genug sind?« fragte sie. »Ich möchte Großvater nicht kränken.«
»Ihr seid elegant genug«, sagte
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