Billard Um Halb Zehn: Roman
Genau drei. Fünfzig Pfennig. Ich war der einzige Besucher der Vorstellung; Hitze brütete auf dem Blechdach; Liebe, Blut, ein betrogener Liebhaber zückte das Messer; ich schlief ein, erwachte erst wieder, als lärmende Besucher zur Sechs-Uhr-Vorstellung in den Saal kamen, taumelte nach draußen. Wo war meine Schulmappe? War sie im Kino? Draußen an der Kiesgrube, wo ich lange gesessen und die triefenden Lastautos beobachtet hatte, oder war sie dort, wo ich den grämlichen Hühnern meine Brote hingeworfen hatte? Ferdis Stimme am Telefon, war das gestern oder vorgestern gewesen:
›Du kommst doch, wie verabredet, ins Cafe Zons?‹ Pause.
›Kommst du oder kommst du nicht?‹ ›Ich komme.‹
Rendezvous mit einem Geköpften. Torheit, die mir jetzt schon kostbar wurde, weil der Preis dafür so hoch gewesen war; Nettlinger erwartete mich vor dem Cafe Zons; sie brachten mich in die Wilhelmskuhle, schlugen mich mit der Stacheldrahtpeitsche; winzige Pflüge furchten meinen Rücken auf; durch die rostigen Fenstergitter hindurch konnte ich die Böschung sehen, auf der ich als Kind gespielt hatte; immer wieder war uns der Ball heruntergerollt, immer wieder war ich die Böschung runtergeklettert, hatte den Ball aufgehoben, einen ängstlichen Blick auf das rostige Gitter geworfen und hinter den schmutzigen Scheiben Böses zu spüren geglaubt; Nettlinger schlug zu.
In der Zelle versuchte ich, mir das Hemd auszuziehen, aber Hemd und Haut waren in gleichem Maße zerfetzt, ineinander verhakt, wenn ich am Kragen, am Ärmel zog, war es, als zöge ich mir die Haut über den Kopf.
Schlimm waren Augenblicke wie dieser; als ich an der Balustrade des Wiegehauses stand, müde, war mein Stolz auf die Stigmata geringer als der Schmerz; mein Kopf fiel aufs Geländer, mein Mund lag auf dem rostigen Gestänge, und die Bitterkeit des ve rwitterten Eisens drang mir wohltuend in den Mund; noch eine Minute nur bis Trischlers Haus, und ich würde wissen, ob sie mich dort schon erwarteten; ich erschrak: ein Arbeiter, mit seinem Henkelmann unter dem Arm, kam die Straße herauf, verschwand im Tor zur Baustoffhandlung. Als ich die Treppe hinunterging, umfaßte ich das Geländer so fest, daß ich den Rost in Flocken vor meiner Hand herschob.
Der heitere Rhythmus der Niethämmer, den ich vor sieben Jahren hier gehört hatte, hallte nur noch als müdes Echo wider, als Klopfen eines Hammers auf einem Ponton, wo ein alter Mann ein Fährboot ausschlachtete; Muttern polterten in einen
Vermoderung kundtat, und der alte Mann beklopfte den Motor, lauschte auf die Töne wie auf die Herztöne eines geliebten Wesens, beugte sich tief in den Bauch des Bootes, brachte Einzelteile ans Licht: Schrauben, Deckel, Düsen, Zylinder, die er ans Licht hob, betrachtete, beroch, bevor er sie in den Karton zu den Muttern warf; hinter dem Boot stand eine alte Winde, Reste eines Drahtes hingen daran, morsch wie verrotteter Strumpf.
Erinnerungen an Menschen und Ereignisse waren immer mit Erinnerungen an Bewegung verknüpft gewesen, die mir als Figur im Gedächtnis geblieben war. Wie ich mich übers Geländer der Balustrade beugte, den Kopf hob, senkte, hob, senkte, um die Straße zu beobachten - die Erinnerung an diese Bewegung brachte mir Worte und Farben, Bilder und Stimmung wieder zum Bewußtsein. Nicht wie Ferdi ausgesehen hatte, sondern wie er ein Streichholz anzündete, wie er den Kopf leicht hob, um ja, ja, - nein, nein, zu sagen, Schrellas Stirnfalten, die Bewegung seiner Schultern, Vaters Gang, Mutters Gebärden, Großmutters Handbewegung, wenn sie ihr Haar aus der Stirn strich - und der alte Mann dort unten, den ich von der Böschung aus sah, der von einer großen Schraube gerade einen verfaulten Holzrest abklopfte, das war Trischlers Vater; diese Hand machte Bewegungen, die nur diese Hand machen konnte - ich hatte dieser Hand zugesehen, wenn sie Kisten öffnete, wieder zunagelte; Schmuggelware, die in dunklen Schiffsbäuchen verborgen die Grenze passiert hatte, Rum und Rosinen, Zigaretten und Schokolade, im Treidlerhaus hatte diese Hand Bewegungen gemacht, die nur sie machen konnte; der Alte blickte hoch, blinzelte zu mir herauf und sagte: ›Na, Söhnchen, der Weg da oben führt aber nirgends hin.‹
›Er führt zu Ihrem Haus‹, sagte ich.
›Wer mich besucht, kommt vom Wasser her, sogar die Polizei
auch mein Sohn kommt mit dem Boot, selten kommt er, sehr
selten.‹
›Ist die Polizei schon dort?‹
›Warum fragst du, Söhnchen?‹
›Weil sie mich
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