Billard Um Halb Zehn: Roman
einzig verläßliche blieb: den Taschenkalender, der mich im Irrgarten der Phantasie an Ort, Tag und Stunde zu mahnen hatte; es war Freitag, der 6. September 1907, und dieses Frühstück war mein erstes; bis zu diesem Tag hatte ich morgens nie zum Frühstück Bohnenkaffee getrunken, nur Malzkaffee, nie ein Ei gegessen, nur Haferschleim, Graubrot mit Butter und eine Scheibe roher Gurke, aber der Mythos, den ich begründen wollte, war schon im Entstehen begriffen, war mit der Gegenfrage des Kochs ›Paprikakäse?‹ dorthin unterwegs, wo er auskommen sollte: beim Publikum. Mir blieb nichts zu tun als zu warten, dazusein - bis zehn, halb elf, während sich das Cafe
langsam füllte, eine Flasche Mineralwasser getrunken, einen Cognac dazu, den Zeichenblock auf den Knien, die Zigarre im Mund, den Bleistift in der Hand; zeichnen, zeichnen, während Bankiers mit würdigen Kunden an mir vorüber ins Konferenzzimmer gingen, Kellner auf grünen Tabletts Weinflaschen hinterherbrachten; Kleriker mit ausländischen Confratres von Sankt-Severin-Besichtigungen kamen, in gebrochenem Latein, Englisch oder Italienisch die Schönheiten der Stadt priesen; während Beamte aus der Regierungskanzlei ihren hohen Rang durch die Tatsache bekundeten, daß sie souverän genug waren, hier gegen halb elf einen Mokka und einen Kirschschnaps zu trinken; Damen, die vom Gemüsemarkt kamen, Kohl und Karotten, Erbsen und Pflaumen in geflochtenen Ledertaschen, bewiesen ihre gute hausfrauliche Erziehung, da sie es wohl verstanden hatten, ermüdeten Bauernfrauen die Beute wohlfeil abzuschwatzen, verzehrten hier das Hundertfache des Eingesparten an Kaffee und Kuchen, empörten sich, die Kaffeelöffel wie Degen schwingend, über eine n Rittmeister, der ›im Dienst, im Dienst‹ einer gewissen Kokotte zum Balkon hinauf einen Handkuß zugeworfen hatte, ihr, die er ›nachweislich, nachweislich‹ erst um fünfeinhalb Uhr morgens, den Lieferanteneingang des Hotels benutzend, verlassen hatte. Rittmeister im Lieferanteneingang. Schande.
Ich sah sie mir alle an und hörte ihnen zu, meinen Komparsen; zeichnete Stuhlreihen, Tischreihen mit Kellnerballett, verlangte zwanzig vor elf die Rechnung: sie war niedriger, als ich erwartet hatte; ich hatte mich entschlossen,
›großzügig, aber nicht verschwenderisch‹ aufzutreten; das hatte
ich irgendwo gelesen und für eine gute Formel befunden. Ich war müde, als ich, vom Kellner mit Dienern verabschiedet, das Cafe verließ, den mythosbildenden Mund des Kellners mit einem Extratrinkgeld von fünfzig Pfennig honorierte; und sie musterten mich eingehend, als ich das Cafe verließ, ahnten nicht, daß ich der Solist war; aufrechten Ganges, elastisch,
schritt ich durchs Spalier, gab ihnen zu sehen, was sie sehen sollten: einen Künstler, mit großem schwarzem Hut, klein, zart, wie fünfundzwanzig aussehend, mit dem unbestimmten Air ländlicher Herkunft, doch sicher in seinem Auftreten. Noch einen Groschen dem Jungen, der mir die Tür aufhielt.
Nur eine und eine halbe Minute bis hierhin, zum Haus Modestgasse 7. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße; roch's in der Toreinfahrt des Hauses Numero 7 wirklich nach Druckerschwärze? Maschinen wie Schiffsmaschinen schoben ihre Kolben hin und her, her und hin; Erbauliches wurde auf weißes Papier gedruckt; der Portier zog die Mütze:
›Der Herr Architekt? Das Gepäck ist schon oben.‹ Trinkgeld in rötliche Hände. ›Immer zu jedem Dienst bereit, Herr Leutnant.‹
Grinsen. ›Ja, es sind schon zwei Herren hier gewesen, die den Herrn Leutnant in den hiesigen Klub der Reserveoffiziere aufnehmen wollen.‹
Wieder sah ich die Zukunft deutlicher als die Gegenwart, die in dunkle Bereiche versank, in dem Augenblick, da sie vollzogen war; ich sah den schmierigen Portier von Zeitungsleuten umlagert, sah die Schlagzeilen: ›Junger Architekt gewinnt Preisausschreiben gegen die Koryphäen des Fachs.‹ Bereitwillig gab der Portier den Zeitungsleuten Auskunft: ›Der? Meine Herren, nichts als Arbeit. Morgens um acht in die stille Messe zu Sankt Severin, Frühstück im Cafe Kroner bis halb elf; von halb elf bis fünf bleibt er unsichtbar oben in seinem Atelier; für niemanden zu sprechen; lebt da oben - ja, lachen Sie nur - von Erbsensuppe, die er sich selber kocht; kriegt von seiner alten Mutter die Erbsen geschickt und den Speck, sogar die Zwiebeln. Von fünf bis sechs Spaziergang durch die Stadt; von halb sieben bis halb acht Billard im Hotel Prinz Heinrich, Klub der
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