Billard Um Halb Zehn: Roman
Reserveoffiziere. Mädchen? Nicht, daß ich wüßte. Freitags abends, meine Herren, von acht bis zehn Chorprobe im Sängerbund deutscher Kehlen.‹ Auch die Kellner im Cafe
Kroner heimsten Trinkgelder ein für Auskünfte. ›Paprikakäse?
Sehr interessant! Zeichnet auch während des Frühstücks wie ein Besessener?‹
Später dachte ich oft an die Stunde meiner Ankunft, hörte Hufe auf Kopfsteinpflaster klappern, sah Hotelboys Koffer schleppen, sah die verschleierte Frau mit dem rosenroten Hut, las das Plakat: ›Militärpflichtigen empfehle ich‹ - lauschte meinem Lachen nach; wem galt es, woraus bestand es? Ich sah sie jeden Morgen, wenn ich nach der Messe herüberkam, meine Post und die Zeitung zu holen; Ulanen, die zum Übungsgelände im Norden der Stadt ritten, dachte jeden Morgen an den Haß meines Vaters auf Pferde und Offiziere, wenn sich die klappernden Hufe entfernten, um Attacken zu reiten, in Spähtrupps Staub aufzuwirbeln; die Trompetensignale trieben Tränen in die Augen Altgedienter, die auf der Straße stehenblieben, aber ich dachte an meinen Vater; Reiterherzen, auch das des Portiers, schlugen höher; Mädchen, mit Staubtüchern in der Hand, erstarrten zu lebenden Bildern, kühlten den trostbereiten Busen im Morgenwind, während der Portier mir das Paket von Mutter aushändigte: Erbsen, Speck, Zwiebeln und Segenswünsche; mein Herz schlug nicht höher im Anblick der davonreitenden Schwadron.
Ich schrieb meiner Mutter beschwörende Briefe, nicht zu kommen; ich wollte nicht, daß sie der Komparserie eingereiht werde; später, später, wenn das Spiel lief, durfte sie kommen; sie war klein, zart und dunkel wie ich, lebte zwischen Friedhof und Kirche, und ihr Gesicht, ihre Erscheinung hätte zu gut gepaßt in dieses Spiel; sie wollte nie Geld, ein Goldstück im Monat langte ihr für Suppe und Brot, für den Groschen in den Klingelbeutel am Sonntag, den Pfennig am Werktag: komm später, schrieb ich ihr - aber es wurde zu spät: ihr Grab, neben Vater, neben Charlotte, Mauritius - nie sah sie den, dessen Adresse sie jede Woche schrieb: Modestgasse 7, Heinrich Fähmel; ich hatte Angst vor der Weisheit ihres Blicks, vor dem
Unvorhergesehenen, das ihr Mund aus sprechen würde: Wozu?
Geld oder Ehre, um Gott zu dienen oder den Menschen? Ich hatte Angst vor dem Katechismus ihrer Fragen, die als Antworten nur die zum Aussagesatz umgeformte Frage erforderten, an deren Ende ein Punkt und kein Fragezeichen stehen mußte. Ich wußte nicht, wozu. Es war nicht Heuchelei, daß ich in die Kirche ging, gehörte nicht zu meinem Auftritt, obwohl sie es dazuzählen würde; mein Auftritt fing erst im Cafe Kroner an, endete um halb elf, fing um fünf Uhr nachmittags wieder an, endete um zehn; an Vater zu denken war leichter, während die Ulanen endlich hinterm Modesttor verschwanden, Leierkastenmänner in die Vorstadt hinaushumpelten, sie wollten früh genug dort sein, um einsamen Hausfrauen und Dienstmädchenherzen Trost zu spielen: Morgenrot, Morgenrot; würden am späten Nachmittag in die Stadt zurückhumpeln, um die Melancholie des Feierabends auszumünzen: Annemarie, Rosemarie; und drüben hängte Gretz gerade den Keiler vor die Tür, frisches Wildschweinblut tropfte dunkelrot auf den Asphalt; um den Keiler herum wurden Fasanen und Rebhühner aufgehängt, Hasen; zartes Gefieder, demütiges Hasenfell umschmückte den gewaltigen Keiler; jeden Morgen hängte Gretz seine toten Tiere auf, immer so, daß die Wunden dem Publikum sichtbar waren; Hasenbäuche, Ta ubenbrüste, des Keilers aufgerissene Flanke; Blut mußte sichtbar sein; Frau Gretzens rosige Hände ordneten Leberlappen zwischen Pilzhaufen; Kaviar, über Eiswürfel gehäuft, glitzerte vor riesigen Schinken; Langusten, violett wie scharf gebrannte Ziegel, bewegten sich blind, hilflos tastend in flachen Aquarien, warteten auf kundige Hausfrauenhände, warteten am siebten, am neunten, am zehnten, elften September 1907, nur am achten, fünfzehnten und zweiundzwanzigsten September, an den Sonntagen blieb Gretzens Fassade frei von Blut, und ich sah die toten Tiere im Jahre 1908, 1909 - nur in den Jahren, in denen höhere Gewalt herrschte, sah ich sie nicht; sah sie immer, einundfünfzig Jahre lang - sehe sie jetzt, wo kundige
Hausfrauenhände am Samstagnachmittag letzte Leckerbissen fürs Sonntagsmahl aussuchen.
»Ja, Leonore, Sie haben recht gelesen: erste Honorarzahlung einhundertfünfzigtausend Mark. Kein Datum? Das muß im August 1908 gewesen sein. Ja, ich bin
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