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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Stillschweigen vollzogen; hier wechselten ganze Stadtviertel ihre Besitzer, wurden Heiratsverträge abgefaßt, in denen jährliche Nadelgelder ausgesetzt wurden, die höher waren als die Summe, die ein Kanzlist in fünf Jahren verdiente; hier wurde aber auch des biederen Schuhmachermeisters Zweitausender-Hypothek notariell bestätigt, des zittrigen Rentners Testament aufbewahrt, in dem er seinem Lieblingsenkel sein Nachttischchen
    Rechtsgeschäfte wurden hier in Verschwiegenheit erledigt, angesichts des Wandspruchs: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Kein Grund, aufzublicken, wenn ein junger Künstler, im vom Onkel geerbten, gewendeten schwarzen Anzug, ein in Kanzleipapier gewickeltes Paket, Zeichenrollen, übergab und glaubte, den Herrn Notar deswegen persönlich bemühen zu müssen. Der Bürovorsteher versiegelte das Paket, die Zeichenrollen, drückte das Kilbsche Wappen, ein Lamm, dem der Blutstrahl aus der Brust brach, in den heißen Siegellack, während die Blonde, Rechtschaffene die Quittung ausschrieb: ›Am Montag, dem 30. September 1907, vormittags
    11.35 übergab Herr Architekt Heinrich Fähmel...‹ Glitt nicht, als sie mir die Quittung hinhielt, über ihr blasses, freundliches
    Gesicht ein Schimmer des Erkennens? Ich war beglückt über das Unvorhergesehene, weil es mir bewies, daß Zeit etwas Wirkliches war; es gab also diesen Tag, diese Minute; bewiesen war es nicht durch mich, der ich tatsächlich die Treppe hinuntergegangen war, die Straße überquert, Flur und Vorzimmer betreten hatte; bewiesen nicht durch den Lehrling, der aufblickte, beschämt dann, der Diskretion eingedenk, sich wieder abwandte; bewiesen nicht durch die blutroten Wunden der Siegel; bewiesen war es durch das unvorhergesehene freundliche Lächeln der Kanzlistin, die meinen gewendeten Anzug musterte, mir dann, als ich die Quittung aus ihrer Hand nahm, zuflüsterte: ›Viel Glück, Herr Fähmel.‹ Diese Worte waren die ersten innerhalb der viereinhalb Wochen, die der Zeit eine Wunde schlugen, mich daran erinnerten, daß es Spuren von Wirklichkeit gab in diesem Spiel, das ich ablaufen ließ; die Zeit war also nicht nur in Traumkabinetten geregelt, wo Zukünftiges gegenwärtig, Gegenwärtiges mich seit Jahrhunderten vergangen dünkte, Vergangenes zukünftig wurde, wie eine Kindheit, auf die ich zulief wie als Kind auf meinen Vater. Er war still gewesen, Jahre häuften sich um ihn herum wie Bleischichten aus Stille; Orgelregister gezogen, beim Hochamt gesungen, bei
    Beerdigungen erster Klasse viel, zweiter Klasse wenig, bei denen dritter Klasse gar nicht gesungen; so still, daß mir jetzt, da ich an ihn dachte, ganz beklommen war; er hatte Kühe gemolken, Heu geschnitten, Korn gedroschen, bis das schweißverklebte Gesicht von Spelzen wie von Insekten bedeckt war; hatte den Taktstock geschwungen, für den Jünglingsverein, den Gesellenverein, den Schützenverein und den Cäcilienverein; sprach nie, schimpfte nie, sang nur, schnitzelte Rüben, kochte Kartoffeln fürs Schwein, spielte Orgel, zog seinen schwarzen Küsterrock an, das weiße Rochett drüber; niemandem im Dorf fiel auf, daß er nie sprach, weil alle ihn nur tätig kannten; von vier Kindern starben zwei an der Schwindsucht, blieben nur zwei: Charlotte und ich. Meine Mutter, zart, eine von denen, die Blumen lieben, hübsche Gardinen, die beim Bügeln Lieder singen und abends am Herdfeuer Geschichten erzählen; Vater schuftete, zimmerte Betten, füllte Säcke mit Stroh, schlachtete Hühner, bis Charlotte starb: Engelamt, Kirche in Weiß; der Pfarrer sang, aber der Küster antwortete nicht, zog nicht die Register, kein Orgelton, keine Respons kam von der Empore herunter; nur der Pfarrer sang. Schweigen, als vor der Kirche der Zug sich in Richtung Friedhof formierte; fragte der verstörte Pfarrer: ›Aber Fähmel, mein lieber, guter Fähmel, warum haben Sie denn nicht gesungen?‹ Und ich hörte zum ersten Mal die Stimme meines Vaters etwas aussprechen, und ich war erstaunt, wie rauh die Stimme dessen klang, der so sanft von der Orgelempore heruntersingen konnte; er sagte es leise, mit knurrendem Unterton: ›Bei Begräbnissen dritter Klasse wird nicht gesungen.‹ Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über die Rübenäcker, in Weidenbäumen schnarrten die Krähen wie Fastnachtsklappern, während der verstörte Pfarrer die Liturgie las; Vater schwang nicht mehr den Taktstock im Jünglingsverein, im Gesellenverein, im Schützenverein, nicht mehr im

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