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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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unser! Schrella lächelte jedesmal, schüttelte den Kopf, wenn er vom Rand zurücktrat und Robert die von den Kugeln gebildete Figur überließ.
    Unwillkürlich schüttelte auch Hugo nach jedem Stoß den Kopf: verflogen der Zauber, geringer die Präzision, gestört der Rhythmus, während die Uhr so genau das Wann? beantwortete: achtzehnuhreinundfünfzig am 6. September 1958.
    »Ach«, sagte Robert, »lassen wir's doch, wir sind nicht mehr in Amsterdam.«
    »Ja«, sagte Schrella, »lassen wir's, du hast recht. Brauchen wir den Jungen noch?«
    »Ja«, sagte Robert, »ich brauche ihn noch, oder möchtest du lieber gehen, Hugo? Nein? Bitte bleib, stell die Stöcke in den Ständer, schließ die Kugeln weg, und hol uns was zu trinken -
    nein, bleib, mein Sohn; ich wollte dir noch was zeigen: sieh hier, ein ganzes Paket von Papieren, durch Stempel und
    Unterschriften sind sie zu Dokumenten geworden, nur eins fehlt noch, Hugo: deine Unterschrift unter dieses Papier - wenn du sie
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    druntersetzt, wirst du mein Sohn sein! Hast du dir meine Mutter und meinen Vater oben angesehen, als du ihnen den Wein brachtest? sie werden deine Großeltern sein, Schrella dein Onkel, Ruth und Marianne Schwestern und Joseph dein Bruder; du wirst der Sohn, den Edith mir nicht mehr schenken konnte; was wird der Alte sagen, wenn ich ihm zum Geburtstag einen neuen Enkel vorstelle, der Ediths Lächeln auf dem Gesicht trägt?... Ob ich den Jungen noch brauche, Schrella? Wir brauchen ihn und wären froh, wenn er uns brauchte; besser noch: er fehlt uns... hörst du, Hugo, du fehlst uns. Du kannst nicht Ferdis Sohn sein und bist doch von seinem Geiste... Sei still, Junge, weine nicht, geh auf dein Zimmer und lies dir das durch; sei vorsichtig, wenn du durch die Flure gehst, Vorsicht, mein Sohn!«
    Schrella zog den Vorhang auf, blickte auf den Platz draußen; Robert hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, Schrella gab Feuer; sie rauchten beide.
    »Hast du das Hotelzimmer noch nicht geräumt?«
    »Nein.«
    »Willst du nicht bei uns wohnen?«
    »Ich weiß noch nicht«, sagte Schrella, »ich habe Angst vor Häusern, in denen man sich einrichtet und sich von der banalen Tatsache überzeugen läßt, daß das Leben weitergeht und die Zeit einen versöhnt; Ferdi würde nur eine Erinnerung sein, mein Vater nur ein Traum, und doch haben sie Ferdi hier getötet, und sein Vater ist von hier spurlos verschwunden; die Erinnerung an die beiden ist nicht einmal in den Listen irgendeiner politischen Gruppe enthalten, denn sie trieben keine Politik; nicht einmal in den Trauergesängen der jüdischen Gemeinde wird ihrer gedacht, sie waren keine Juden; vielleicht lebt Ferdi wenigstens in den Gerichtsakten; nur wir beide denken an ihn, Robert, deine Eltern, und dieser alte Portier da unten - deine Kinder schon nicht mehr; ich kann in dieser Stadt nicht leben, weil sie mir
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    nicht fremd genug ist, ich bin hier geboren, bin zur Schule gegangen; ich wollte die Gruffelstraße aus ihrem Bann erlösen, ich trug das Wort in mir, das ich nie aussprach, Robert, auch im Gespräch mit dir noch nie, das einzige, von dem ich mir für diese Welt etwas verspreche - ich werde es auch jetzt nicht aussprechen; vielleicht werde ich es dir am Bahnhof sagen können, wenn du mich an den Zug bringst.«
    »Du willst heute noch fahren?« fragte Robert.
    »Nein, nein, nicht heute, das Hotelzimmer ist genau das richtige: wenn ich die Tür hinter mir schließe, ist diese Stadt mir so fremd wie alle anderen. Ich kann mir dort denken, daß ich bald aufbrechen muß, um irgendwo meinen Sprachunterricht zu geben, in einer Schulklasse, wo ich Rechenaufgaben von der Tafel abwische, um mit Kreide daran zu schreiben: ›Ich binde, ich band, ich habe gebunden, ich werde binden, ich hatte gebunden - du bindest, du bandest‹; ich liebe die Grammatik, wie ich Gedichte liebe. Vielleicht glaubst du, ich möchte nicht hier leben, weil ich keine politische Chance für dieses Land sehe, ich glaube eher, daß ich hier nicht leben könnte, weil ich immer vollkommen unpolitisch war und es noch bin« - er deutete auf den Platz draußen und lachte -, »es sind nicht die da unten, die mich abschrecken; ja, ja, ich weiß alles und ich seh sie da unten, Robert: Nettlinger, Wakiera; ich habe nicht Angst, weil es die da unten gibt, sondern weil es die anderen nicht gibt; welche? Die, die das Wort manchmal denken, meinetwegen nur flüstern; ich hab's mal von einem alten Mann in Hyde Park gehört, Robert: Wenn ihr an

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