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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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kam es nun nicht mehr an. Eine Weile, draußen auf der Straße, stand er unschlüssig. Freilich, er hatte sich auch das Erhängen überlegt; wahrscheinlich widerte es ihn an, begreiflicherweise. Es war an einem Samstag. Jedenfalls nahm er den Weg zum nächsten Fluß, wenn auch nicht den nächsten Weg, denn er kaufe sich noch einmal Zigaretten, eine ganze Schachtel voll, weniger bekommt man ja nicht, und die Verschwendung, die er somit beging, mutete ihn merkwürdig an, nachdem er ein Leben lang hatte sparen müssen. Es gab der Stunde seines Todes, ob er wollte oder nicht, eine gewisse Festlichkeit. Es wäre dann zu schildern, wie er an einer Kirmes vorbeikam, was den Tatsachen entspricht. Es war Abend. In den Bäumen zwitscherten die Vögel, ein junger Mann schlug auf den Herkules, so, daß man jedesmal das silberne Glöcklein hörte, wenn seine Kraf schon wieder den Gipfel erreichte; ein Karussell drehte, ein Kreis von hölzernen Rößlein, sämtliche leer, denn die Kinder schauten nur zu, und der Eigentümer hatte Zank mit einem Weib, das sichtlich im Unrecht war, und die Orgel tönte, und ob niemand es wußte, es war Verdi und Strauß, nicht mehr und nicht weniger. Eine Weile, als er so stand und schaute und hörte und rauchte, unser Selbstmörder, überlegte er sich, ob er nicht als einziger das leere Karussell besteigen sollte. Er überlegte es lange. Was immer es sein mochte, das ihn dazu lockte, eine Art von Galgenwitz, eine Art von Mitleid, sei es zu den leeren Rossen oder zu dem Eigentümer, der sichtlich im Recht war, er tat es nicht. Vielmehr erwog er, wie es wäre, wenn er den Rest seines Geldes, das er nun nicht mehr brauchte, unter die Kinder verteilte. Eine schöne Tat, eine rührende Tat. Die Kinder würden auf das Karussell stürmen, er aber ginge zum Fluß, den Pappeln entlang, und man müßte das alles in einer Weise schildern, daß uns fast die Tränen kämen, und eben das ekelte unseren Selbstmörder, er tat es nicht. Natürlich war es eine Gegend, wo die Leute arm sind, die Kinder barfuß, und in den Pappeln, die auf dem staubigen Platze standen, rieselte der Abend. Wieder würde es Frühling. Es war durchaus nicht wolkenlos, eher sah es nach Regen aus, und der Selbstmörder wunderte sich, daß er noch immer auf solche Dinge, die nicht mehr in sein Leben reichten, achtete. Er sagte sich: Es sind Zuckungen. Man kennt es von toten Fischen, es gab schon solche, die noch in der Pfanne herumschnellten, als könnte die Hitze sie kümmern. Mittlerweile war er weitergeschlendert; die Kirmes, schien ihm, war größer als früher, da er selber noch ein Bub gewesen war, barfuß, und er ließ es sich nicht nehmen, noch einmal alles anzusehen. Ohnehin war es noch beinahe Tag. Die städtischen Lampen, die einer Uhr gehorchten, waren zwar erhellt, ohne zu leuchten; der westliche Himmel war heller als sie, und die Vögel zwitscherten nach wie vor, denn die Tage wurden nun zusehends länger. Bald kämen die Dienstmädchen, die Burschen, die tagsüber in der Zwirnerei arbeiteten; sie würden in Gruppen umher stehen, einzelne auf ihrem Fahrrad hocken, und später würden sie auf das silberne Kügelchen schießen, das auf einem Wasserstrahl tanzt, oder auf die tückischen Nägel hämmern, die man mit einem einzigen Schlag in das Brett hauen sollte; ein Schreiner, oder ein junger Zimmermann, würde es den Leuten zeigen, wie man das macht. Sein Geschick, sein Erfolg, sein beharrliches Weitermachen, es bringt den Budenmann zur offnen Verzweiflung. Es gibt einen kleinen Auflauf; der Budenmann weigert sich. Alles das kennt man. Wie die Melodie der Vögel; sie fällt in ein taubes Herz, es sagt: Ich kenne das, ja, es ist lieblich, ich kenne das. Das ist die graue Asche der Erfahrung. Sie legt sich auf alles, noch auf das Glitzern der Wellen. Man sieht die Pappeln, die Birken, die Mädchen im Wind; aber wie vieles an Freude, an Neugier, an sinnlichem Zauber, an Süße der Wehmut und Hoffnung, an Allgegenwart einer Hoffnung, die von keinem Mädchen und keinem Augenblick wußte, ob es nicht Anfang eines Abenteuers, eines ganz neuen und anderen und unvermuteten Lebens bedeutete, wie vieles ist hin! Einst, wenn man all diese Dinge sah, einst war man voll Jubel, den man im Überschwang nicht halten, nicht fassen konnte, und man meinte: wenn wir erst älter sind. Nimmer wird es gelingen, denn der Jubel, er ist aus den Dingen verflogen, nur die Erfahrung bleibt, nur die Asche der Erfahrung nimmt zu. Das einzige, was unseren

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