Bin oder die Reise mach Peking
wirbelte wie eine Bacchantin; auf ihrem Antlitz – mitten im Taumel und Lärm, denn der Matrose stampfe nun mit seinem Stiefel, und alle anderen sangen mit erhobenen Bechern – lag eine kindliche, eine trunkene, eine strahlende Ruhe.
»Nun glaube ich wirklich«, sagte ich abermals,
»das ist sie!«
»Aber wer denn?«
»Maja –«
Ohne von ihr wegzublicken, indem ich redete, erzählte ich die Geschichte, die keine war. Oh, es war mehr! Es war das erstemal. Ich suche sie seit Jahr und Tag, und solange ein Gedächtnis in mir lebt, und einst, wenn ich auf dem Totenbett liege –
»Herr«, sagte sie, trat auf mich zu, und die
Matrosen brüllten vor Lachen, denn ich wurde
wohl rot, »warum sehen der Herr mich so an?«
Ich hörte mich sagen:
»Weil du wohl schön bist.«
»So tanzen wir!«
Sie hatte recht. Und wir tanzten, und es wurde
mir, als hätte ich noch nie eine Mädchenhand in der meinen gespürt, noch nie geküßt. Was für ein Reich lag also noch vor mir! Ich hielt sie gar weit von mir. Um nicht zu küssen. Es mußte ein Schauer sein, ein Anfang, ein Ende, ein Meer von Wonne, ja, ich hatte füglich Angst, mir käme das Heulen, wenn ich sie küßte, und nachher würde ich hinausgehen und mich erhängen. Weil es das nie wieder gab. Sie tanzte wie vorher; ihr Kleidchen stieg wie eine Scheibe um sie, flog, alles flog und alles drehte, auf ihrem Antlitz aber lag eine strahlende Ruhe. Ich glaube, die Musik war lange schon zu Ende; ich aber stand noch immer … Ja, denke ich, das ist ihre Wange. Das ist der Flaum ihrer Schläfe. Ich sah auch die kindliche Feuchte ihrer Lippen. Ihre Augen! sie waren wie ein früher Morgen, man ging wie in die Stille eines Waldes hinein. Ihre Zähne, denke ich, man möchte sie noch einmal haben, um in einen saftenden Apfel zu beißen, so daß es knallt, und nachher sterben … Endlich, wie am Ärmel gezupf von meinem eigenen Verstande, verbeugte ich mich, sagte Dank, und auch sie machte einen höflichen Knicks, und die Matrosen lachten.
»Nun«, fragte Bin, »ist sie es?« Ich zuckte die Achseln:
»Sie nannte mich – Sie.«
»Hm«, meinte Bin, »vielleicht ist sie es trotzdem;
sie kennt dich nur nicht mehr – du bist ein Herr
geworden.«
So verging die Zeit.
D ie Nacht war lau. Ich hatte noch eine Zigarette geraucht, draußen auf dem winzigen Balkönlein. Dann zog ich die Vorhänge, langsam, und Bin, der auf dem Rande meines Bettes saß, stellte den Wecker, gähnte.
»Teufel nochmal!« sagte er, »es ist wieder spät
geworden. Morgen müssen wir in aller Herr-
gottsfrühe aufstehen.«
»Warum?«
»Damit wir weiterkommen, denke ich. Und auch sonst … Es ist ein Mittel gegen die Melancholie.« Bin hatte natürlich recht. Noch haben wir Peking nicht erreicht.
M ag sein, man ist ein Herr geworden. Manchmal geschah es, daß ich Bin einfach wieder vergessen hatte, wochenlang, vielleicht auch jahrelang. Wer könnte es wissen, da er die Zeit nicht wirklich lebt? Man stellt seinen Wecker, man wäscht sich, man schneidet die Fingernägel, man arbeitet, man ißt, man verdient. Es gibt zu vieles, was man immerfort muß, immerfort sollte … Bin ist ein Geist. Ein Geist hat es leicht. Er muß nicht jeden Morgen sich anziehen, nicht jeden Morgen muß er die Klinge schleifen. Während ich schleife, höre ich manchmal die Vögel: sie erwachen und – singen! Er muß nicht zum Zahnarzt, zum Schneider, er muß nicht ausrechnen, wieviel er verdient, damit er weiß, wieviel er dem Staate schuldet. Er muß nicht immerfort die Zeitung lesen, beim Haarschneider sitzen, in einer Straßenbahn fahren. Er muß nicht immerfort einen Zettel unterschreiben, nicht immerfort in eine Tasche greifen und zahlen. Er muß nicht seine Hosen in den Bügel hängen. Abend für Abend … Es gibt zu vieles, was man immerfort muß! … Ich habe einen Menschen gekannt, der aus keinem anderen Grunde dazu kam, daß er sich das Leben nehmen wollte. Er saß in einer Wirtschaf, und wer ihn gesehen hatte, wie er stundenlang vor sich hinschwieg, beinahe lächelnd, konnte nicht daran zweifeln, daß es sein Ernst war. Einmal entschlossen, trank er sein letztes Bier und bezahlte, gab ein Trinkgeld, nicht zu klein, nicht zu groß; er ließ auch seinen Hut nicht in der Wirtschaf zurück, obschon er auch dieses Hutes nun nicht mehr bedurfe, all dies, damit ihm keinerlei Aufsehen folgte. Als man ihm die Türe hielt, sagte er sogar: Auf Wiedersehen. Das war noch einmal die Lüge eines Weltmannes, eine mehr oder weniger, darauf
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