Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Band 8 der Bibliothek Suhrkamp
    Max Frisch
    Bin
    oder Die Reise nach Peking

    Atlantis Verlag Zürich
    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
    Für die Schweiz im Atlantis Verlag Zürich, außerhalb der Schweiz im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, der sich alle Rechte vorbehält.

    56.–63. Tausend 968
    Copyright 945 by Atlantis Verlag Zürich · Printed in Germany · Satz und Druck in Garamond Antiqua von der Buchdruckerei Georg Wagner, Nördlingen.

    Für meine Frau

    E s ist im Ernst nicht anzunehmen, daß es Leute gibt, die Bin, unseren Freund, nicht kennen. Es wäre denn ein albernes Mißverständnis; wir reden aneinander vorbei, indem sie ihm einfach einen anderen Namen geben … Ein Marschall, der zu den namhafen dieses gräßlichen Krieges gehört, hatte einmal sein Quartier in einem alten Bauernhaus; er saß am Dämmerrand eines Lampenschirmes, allein, er arbeitete am Krieg, der für den kommenden Tag einen Überfall verlangte. Es mochte gegen Mitternacht sein, als er den Überfall im reinen hatte; er löschte die Lampe, ließ die fremde Nacht durch das offene Fenster und sah, halb schon zur Türe unterwegs, wo ihn seine versammelten Offiziere erwarteten – sah, daß draußen einer am Fenstersims lehnte. Der Marschall blieb stehen, seine Befehle in der Hand, seine Karten, seinen Überfall. Offenbar stand der andere, der Fremde, schon lange so da, eine Pfeife im Mund, auf die Ellbogen seiner vertragenen Joppe gestützt. Er stand wie ein Nachbar, der gelegentlich, wenn es Abend wird, an unser Fenster tritt und eine Weile plaudert, ein Einheimischer. Allein es gab in dieser Gegend und zu der Zeit, als dies geschah, durchaus keine Einheimischen mehr, die so umhergehen konnten; es war ja Krieg. Es gab die Soldaten, die eigenen, die feindlichen, und was allenfalls sonst noch lebte, das arbeitete in Lagern. Einen Augenblick – der namhafe Marschall ertappte sich über einem Augenblick persönlichen Schreckens – hatte er an einen Attentäter gedacht. Wir haben vergessen, es gab auch noch die Partisanen. Auf jeden Fall hatte die Wache ihn nicht gestellt. Indessen erwies sich der Unvermutete in keiner Weise als ein Täter, er kratzte nur das Moos vom Fenstersims, indem er seinen Fingern zuschaute, tat, als gäbe es nichts Dringenderes in dieser Stunde. Nach einer Weile, als sich das Auge an das Dunkel gewöhnt hatte und man sich besser erkannte, redete er sogar mit dem Marschall. Oh, nichts Unerhörtes! Er redete in der Muttersprache unseres immerhin betroffenen Marschalls; es hätte auch jede andere Muttersprache sein können. Nachdem er die erloschene Pfeife an seinen Absatz geklopf, blickte er abermals in die offene Nacht hinaus, und der Mond saß ihm wie eine gelbe Katze auf der Schulter; er blickte einfach hinaus: die Grillen, die reifenden Felder, die Liebenden, die Vögel im finstern Gezweig, die schlafenden Rehe … denn der Marschall war auch ein leidenschaflicher Jäger – Offenbar aus bloßer Wut auf die Wache, die versagt hatte, schellte er plötzlich. Licht, Lärm, Leute! Natürlich umsonst. Sogar ein Schuß fiel einsam in die offene Nacht unter Sternen. Dann wieder war alles beim alten: die Stille, die Grillen, die Sterne, die Schritte der Wache. Aber gefunden hatten sie nichts, auch als der Morgen graute, nicht einen toten Partisanen, nicht einmal Spuren von Blut. (Der Marschall hingegen, der zu den namhafen dieses gräßlichen Krieges gehörte, ist seither schon lange gefallen.) Soviel über Bin.

    Es war ein Abend im März. Wir hatten in der ledernen Nische eines Kaffeehauses gesessen wie all die Abende, wenn man vom Geschäf kommt, einen Kirsch trinkt, eine Zeitung liest. Auf einmal, nach Jahren des Wartens, sieht man sich von der Frage betroffen, was wir an diesem Ort eigentlich erwarten. Mindestens die Hälfe des Lebens ist nun vorüber, und insgeheim fangen wir an, uns vor dem Jüngling zu schämen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllen. Das ist natürlich kein Zustand. Ich winkte dem Kellner, zahlte und ging. Den Mantel, den er mir halten wollte, nahm ich auf den Arm, ebenso die Rolle – Draußen war es ein unsäglicher Abend. Ich ging. Ich ging in der Richtung einer Sehnsucht, die weiter nicht nennenswert ist, da sie doch, wir wissen es und lächeln, alljährlich wiederkommt, eine Sache der Jahreszeit, ein märzliches Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so, daß es sich auf eine wohlige Weise lohnte, zu reden, zu denken über viele Dinge, ja,

Weitere Kostenlose Bücher