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Titel: Binärcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gude
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umzuwerfen, auch wenn Generationen von Hollywoodregisseuren seit Peckinpahs ›Wild Bunch‹ das den Kinozuschauern in unzähligen Slow Motions hatten weismachen wollen. Die heute ungelenk und lächerlich anmutenden Darstellungen der Mimen in den frühen Western aus den 40ern und 50ern kamen der Realität viel näher. Die Französin legte andächtig den Kopf auf die Schulter und presste ihre Hände auf die blutende Wunde. Einige Sekunden stand sie so da, wie eine ins Gebet versunkene Madonna, dann gaben ihre Beine nach, und sie sackte unspektakulär zusammen.
    Rünz versagte sich jede weitere Abwägung. Er nahm seinen LadySmith aus dem Holster, entsicherte und stürmte halbblind aus der Deckung geradewegs auf den Hochbunker zu. Zwei oder drei Sekunden war er sicher, der Jäger musste aufstehen, ein rennendes Tier konnte er nur aus kniender oder stehender Position erlegen. Aus vollem Lauf feuerte Rünz, die Schüsse mitzählend, er musste sich eine Kugel aufbewahren für den unwahrscheinlichen Fall, dass er die Stahltür am Fuß des Turmes lebend erreichte. Die Geschosse zerplatzten am meterdicken Beton des Bunkers, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen – genauso gut hätte er einen afrikanischen Elefantenbullen mit Knallerbsen bewerfen können.

     
    Die Demontagetrupps der Deutschen Bahn hatten schon Jahre zuvor ganze Arbeit geleistet, das Gelände von allen alten Gleisanlagen, Rangier- und Signaleinrichtungen befreit. Sie hatten nur ein einziges Stück vergessen, eine zehn Meter lange rostige und krautüberwucherte Vignolschiene, die quer in Rünz’ Laufrichtung lag und nach Jahren nutzlosen Herumlungerns noch einmal eine Aufgabe hatte – einen südhessischen Polizeihauptkommissar an der Ausübung seiner Pflichten zu hindern. Er blieb mit der rechten Fußspitze unter dem Schienenkopf hängen, kippte vornüber und schlug mit der Schläfe auf dem Beton auf. Aber er verlor nicht sofort das Bewusstsein. Seine Muskeln waren gelähmt, er verdrehte wie ein Chamäleon seine schmerzenden Pupillen, um seine Umgebung zu erfassen. Dann sah er sie, in einigen Metern Entfernung, durch die Büsche hindurch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Charli ihn an. Sie lag im Sterben, ihre Lippen formten die immergleichen Silben, als wollte sie Rünz noch etwas mitteilen. Was folgte, war schwarze Leere.

     

     
    * * *

     

     
    Krankenhäuser waren eine sinnvolle Einrichtung, mit einem marginalen Nachteil – sie gaben einem nicht die Chance, zu genesen. In Kliniken galten zwei ungeschriebene Gesetze. Das erste verbot den Patienten, aktiv zu werden, das zweite untersagte ihnen, zur Ruhe zu kommen. Versuchte Rünz seinen Aktionsradius mit Ausflügen durch die Klinikflure zu erweitern, blind vortastend, immer mit einer Hand an der Wand entlang, riet ihm das Pflegepersonal, auf der Station zu bleiben, da für irgendwann in den nächsten 48 Stunden eine wichtige Untersuchung angesetzt sei. Wollte er sich dagegen entspannen, betrat eine Reinigungskraft das Zimmer, die Nachtschwester kam mit den kleinen Schlafhelfern, der Chefarzt schaute mit seinem Hofstaat vorbei, fummelte an seinem Körper herum und raunte dem Oberarzt lateinische Fachausdrücke zu, es wurde Frühstück, Mittagessen, Kaffee oder Abendessen gebracht oder wieder abgeholt, eine Schwester nahm die Essenswünsche für die folgende Woche auf, Besuch kam, Blutdruck wurde gemessen oder die Betten gemacht. Betten wurden meist um fünf Uhr morgens gemacht, denn dann war Schichtwechsel. Die nicht bettlägerigen Patienten standen dann einige Minuten schlaftrunken wie Zombies in den Krankenzimmern herum und ließen sich danach wieder ins frische Laken fallen, um bis zum Frühstück noch einmal wegzudösen. So verbrachte Rünz die meiste Zeit im Bett, zur Untätigkeit verdammt, ein deprimierender Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein, in dem der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwamm.

     
    Ein vertrauter Duft weckte ihn aus der Trance, eine Melange aus Palmöl, Kokos, Lavendel und Rosenextrakt, die sich langsam, aber nachdrücklich ihren Weg durch die Ausdünstungen der Putz- und Desinfektionsmittel bahnte.
    »Dass ich deine Weleda-Ökoseife mal gerne riechen würde – scheint ziemlich schlimm um mich zu stehen .«
    »Warst halt lange genug auf Entzug .«
    Seine Frau raschelte mit irgendeiner Papierschachtel, er gab sich keine Mühe, unter seinem Augenverband hindurchzulinsen. Dann spürte er ihre Hand über seinem Gesicht und millimetergroße minzige Kügelchen

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