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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Lukas
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dem Zimmer zu erledigen gälte, das niemand anderer für ihn erledigen könnte, niemand auf seine unverwechselbare, besondere Weise? Wie, wenn er eben deswegen hinein gebeten würde, und sein Wieder-gehen-Dürfen bedeuten würde, dass sein persönlicher Auftrag und Beitrag zur Schöpfungsgeschichte erfüllt ist? Dann hätte sein Kommen und Gehen schon mehr Sinn. Dann wäre die „Einladung zu seinem Kommen“ nichts weniger als eine Zurückweisung seiner Person, sondern sie wäre geradezu ein Vertrauensakt bezüglich seiner Wirkkraft, und die Entlassung aus dem Leben wäre der Dank für das von ihm Gewirkte und Bewirkte. Eine interessante Sichtweise, die der des Abgeordneten in der folgenden Anekdote ähnelt:
    Im 19. Jahrhundert tagte irgendwo im Mittelwesten Amerikas ein Parlament. Da trat eine Sonnenfinsternis ein. Eine Panik drohte auszubrechen, weil man den Weltuntergang befürchtete. Daraufhin sagte ein Abgeordneter: „Liebe Leute, es gibt jetzt nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Herr kommt – dann soll er uns bei der Arbeit finden. Oder er kommt nicht – dann besteht kein Grund, unsere Arbeit zu unterbrechen.“
    Dieser Anekdote gedenkend habe ich einmal den brieflichen Notschrei eines jungen Mädchens namens Lore beantwortet. Da stand geschrieben, die beste Freundin habe sich von ihr abgewandt, der Vater habe nie Zeit für sie gehabt, die Mutter lebe woanders, und die Lieblingslehrerin sei zu guter Letzt auch von ihr abgerückt. Der Kernsatz des Briefes folgte: „Niemand war da, als ich Hilfe brauchte. Deshalb will ich mich umbringen.“ „Liebes Fräulein“, schrieb ich zurück, „wenn Sie dies tun, dreht sich Ihr Satz ‚Niemand war da, als ich Hilfe brauchte‘ um und lautet eines Tages: ‚Kein Fräulein Lore war da, als die Welt sie brauchte …‘“ Dieser Gedanke beeindruckte das Mädchen derart, dass es die Selbstmordabsicht fallen ließ.
    So viel zu Todesangst und Todeswunsch. Setzen wir beidem die Bereitschaft entgegen, unsere Arbeit zu tun, die Aufgaben, die das Leben uns stellt, zu erfüllen, das Zimmer, das unseres ist, ein wenig heller und schöner zu gestalten. Nicht das Empfangene soll über uns bestimmen, sondern das zu Gebende soll uns leiten. Dann können wir am Ende unserer Zeit unser Werk getrost in die Zeitlosigkeit eintreten lassen, in der es von niemandem mehr zerstört wird. Wie weise war doch ein Grabspruch, den ich einmal auf einem Friedhof fand, und der lautete: „Steht nicht am Grab und trauert um mich – ich bin nicht da, denn ich sterbe nicht.“
    Das Ich eines Menschen ist sicher nicht „da“, es hat eine andere Heimstatt: ein Zimmer in der Ewigkeit … vielleicht genau das Zimmer, das dieser Mensch ein Leben lang mit seinem Wirken erfüllt und ausgestaltet hat.
    Zusammenfassend lässt sich sagen: Nur wer den „Aufgabencharakter des Lebens“ (Frankl) übersieht, hat Grund, den Tod zu fürchten, oder umgekehrt, den Tod zu wünschen, weil er das Leben fürchtet.
Wer für nichts da ist, für den ist nichts da – wer für nichts gut ist, für den ist nichts gut.
Wer hingegen unter Leben die Gelegenheit versteht, einen persönlichen Beitrag zu erbringen, und unter Sterben den feierlichen Augenblick versteht, in dem dieser persönliche Beitrag übergeben und abgeliefert wird, der kann das Leiden an der Vergänglichkeit des Lebens transformieren in eine Freude an der Unzerstörbarkeit gelebten Seins. Der kann den Werteverlust, den der Tod bedeutet, aufwiegen im Wertegewinn, der ihm und der Welt erwächst aus einem vollendeten Lebenswerk. Sehr tiefsinnig formuliert hat dies Pater Bertschi aus Zürich in einer Reflexion über den Tod, die mit den Worten beginnt:
    In ihrem Innersten trug die Violine diesen Spruch:
    „Als ich noch in den Wäldern lebte
,
    habe ich geschwiegen;
    Nun, da ich gestorben bin, singe ich.“
    Vielleicht ist es bei uns Menschen … nicht viel anders.

Das Mädchen und die Blumen
    Einmal wurde mir im Zuge meiner Beratungspraxis ein Kind vorgestellt. Es war knapp sechs Jahre alt und stand vor seiner Einschulung. Entfernte Verwandte hatten es vorübergehend bei sich aufgenommen, während eine geeignete Pflegefamilie für es gesucht wurde. Warum? Weil das kleine Mädchen die einzige Überlebende eines grauenhaften Verkehrsunfalls war, bei dem wenige Wochen zuvor seine Eltern und seine zwei Brüder ums Leben gekommen waren. Eine Großtante hatte das völlig verstörte Kind zu mir gebracht in der Hoffnung, ich wüsste ein Trostwort.
    Ach, haben

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