Beschwichtigungen und Verharmlosungen existenziell einschneidender Ereignisse sind mehr schädlich als nützlich. Von Viktor E. Frankl stammt in diesem Kontext der warnende Satz: „Wo alle Worte zu wenig wären, dort ist jedes Wort zu viel.“
Ein lieber Freund harrt still bei dem Betroffenen aus und hilft ihm eventuell mit konkreten Diensten. Er ist da – und das tut gut.
Tipp 5: Die Fremdheit des anderen bejahen
Ein fünfter und letzter Tipp sei zur Abrundung angefügt:
Freunde akzeptieren die „Fremdheit“ des anderen
– und einander fremd sind wir uns alle irgendwie.
Es ist schier unglaublich, dass von Milliarden Menschen jeder einen eigenen, unverwechselbaren genetischen Code bzw. Fingerabdruck besitzt, und dies nicht nur physisch. Auch die Bedürfnisse, Begabungen, Meinungen und Weltauffassungen der einzelnen Personen divergieren in unendlicher Mannigfaltigkeit. Das ist super! Man stelle sich bloß vor, wie öde unsere Welt wäre, wären alle Menschen gleich. Ein Volk von Bio-Robotern würde die Erde beherrschen. Zweifellos sind wir Menschen alle gleich
wertig
, aber Gleich
heit
ist im Plan der Natur nicht vorgesehen.
Was jedoch super ist, das hat auch seine Kehrseite. Just diese interessante Mannigfaltigkeit der Individuen, Rassen, Völker, Nationen … erzeugt jenes Konfliktpotenzial, das seit Jahrtausenden zu Kriegen im Großen wie im Kleinen führt. Überall, wo Menschen eng beisammen sind, reibt es sich. Die Meinungen gehen auseinander, die Gemüter erhitzen sich, die Temperamente kochen über, und schon ist das Malheur passiert. Der Krach ist schnell da, wohingegen Wiederversöhnungen ellenlange Wartezeiten haben.
Das Einzige, das jenes furchtbare Konfliktpotenzial hinunterzuschrauben vermag, ist eine
Blickumkehr:
weg von der Erwartung, die anderen müssten meinen Vorstellungen entsprechen und sich meinen Wünschen gemäß verhalten, und hin zu der an mich selbst gestellten Erwartung, ich möge das Fremde, das Andersartige an den anderen mit so viel Toleranz und Wertschätzung akzeptieren, als ich nur kann und die Sachlage erlaubt. Freunde schaffen das, und sie schaffen noch mehr. Freunde erlauben dem jeweils anderen, eine eigene Meinung zu haben, und lassen sogar die Möglichkeit zu, dass jener andere mit seiner Meinung recht hat und sie selbst irren. Und sollte einmal der andere geirrt haben, tragen die Freunde es ihm nicht nach.
Antoine de Saint-Exupéry schrieb (in: „Worte wie Sterne“, Herder, Freiburg, 8. Auflage 1982) den tiefsinnigen Absatz:
„Es scheint, dass unser Aufstieg noch nicht vollendet ist, dass die morgige Wahrheit sich vom gestrigen Irrtum nährt, und dass die zu überwindenden Gegensätze für unser Wachstum der rechte Humus sind. Wir zählen auch die zu den Unsrigen, die anders sind als wir. Aber welch merkwürdige Verwandtschaft! Sie gründet sich auf das Künftige, nicht auf das Vergangene. Auf das Endziel, nicht auf die Herkunft. Wir sind Pilger, die auf verschiedenen Wegen einem gemeinsamen Treffpunkt zuwandern.“
Nun denn, wandern wir durch unser Leben, wie es sich für Pilger geziemt: mit wenig Gepäck und stattdessen mit in Freundschaft ausgestreckten Händen.
Wir werden gut ankommen.
Über die Autorin
Dr. habil. Elisabeth Lukas, geboren 1942 in Wien, ist Schülerin von Prof. Viktor E. Frankl. Als Klinische Psychologin und approbierte Psychotherapeutin spezialisierte sie sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie, die sie methodisch weiterentwickelte. Nach 13-jähriger Tätigkeit in Erziehungs-, Familien- und Lebensberatungsstellen übernahm sie 1986 die fachliche Leitung des von ihrem Mann und ihr gegründeten „Süddeutschen Instituts für Logotherapie GmbH“ in Fürstenfeldbruck bei München, die sie 17 Jahre lang inne hatte. Zurzeit ist sie als Lehrtherapeutin beim österreichischen Logotherapie-Ausbildungsinstitut ABILE tätig
Vorträge und Vorlesungen auf Einladung von mehr als 50 Universitäten (darunter länger andauernde Lehraufträge an den Universitäten München, Innsbruck und Wien) sowie Publikationen in 17 Sprachen machten sie international bekannt.
Ihr Werk ist mit der Ehrenmedaille der
Santa Clara University
in Kalifornien für herausragende Verdienste auf dem Gebiet der Psychologie und mit dem großen Preis des Viktor-Frankl-Fonds der Stadt Wien ausgezeichnet worden.
Anschrift der Autorin:
Marktplatz 17, 2380 Perchtoldsdorf bei Wien
ÖSTERREICH
Tel.: (+43) (0)1 / 8693769
E-Mail:
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