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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Lukas
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dafür
ein Trostwort? Im dicksten Duden, unter 500 000 Wörtern der deutschen Sprache, ist keines vorrätig. Wir haben kein Wort – außer dem „Wort des Anfangs“, dem „Logos“, dem Sinn. Nicht, dass wir in einem Verkehrsunfall einen Sinn sehen könnten. Nicht, dass wir mit anthropomorphen Verrenkungen einen divinen Sinn hineindeuten dürften. Aber glauben dürfen wir, dass jenseits der Schwelle unseres Begreifens ein Sinn waltet, der alles durchdringt, was existiert. Ein Sinn, in den das Kind, seine Eltern und seine Brüder eingebettet sind und aus dem sie niemals herausfallen, nicht herausgeschleudert werden können, durch keinen Unfall und keine maschinelle Fliehkraft. Lässt sich das einer knapp Sechsjährigen vermitteln?
    Ich hob das Mädchen auf meinen Schoß. „Erzähl’ mir von den Sonntagen“, bat ich es. „Was habt ihr unternommen, wenn das Wetter schön war?“ „Ausflüge“, piepste die Kleine. „Wir sind zum Badesee gegangen und haben die aufblasbaren Schwimmtiere mitgenommen. Meinen großen Schwan, auf dem man im Wasser reiten kann. Und den Krebs von meinem jüngsten Bruder, mit dem er im Sand spielt. Der Krebs hat zwei Löcher, weil mein Bruder ihn über die Steine gezogen hat. Aber der Papa hat sie geklebt, und jetzt behält der Krebs wieder die Luft.“ Beim Zuhören wurde mir ganz elend zumute.
    Ich wiegte das Kind ein wenig und drückte sein Köpfchen an meine Brust. „Meine Kleine“, begann ich, „mach die Augen zu. Wir entschweben jetzt miteinander ins Traumland. Dort möchte ich dir etwas zeigen.“ Gehorsam kuschelte sich das Mädchen an mich. „Ihr seid alle beisammen. Deine Eltern, deine Brüder und du. Ihr seid in Aufbruchstimmung, denn ihr wollt zum Badesee. Draußen vor dem Fenster eures Hauses lacht die Sonne über die Stubenhocker und ruft ihnen zu: ‚Schnell, schnell, hinaus mit euch! Ich habe die Planschbecken geheizt, damit sich die Wassertiere darin wohl fühlen.‘ Also packt deine Mutti eure Badesachen ein, und ihr Kinder schlüpft inzwischen in eure Schuhe. Kannst du deine Schuhe schon allein anziehen?“
    Ohne die Augen zu öffnen, nickte die Kleine.
    „Gut“, fuhr ich fort. „Jetzt marschiert ihr aus dem Haus, und dein Papa schließt die Türe hinter euch zu. Ihr seid auf der Straße. Aber, oh Schreck, deinen Eltern fällt ein, dass die Blumen auf euren Fensterbrettern nicht gegossen worden sind. Und gerade heute brennt die Sonne so stark! Die Blumen könnten bis zum Abend vertrocknen. Soll die ganze Familie umkehren, um die Blumen zu gießen? Da hast du, meine Kleine, eine prima Idee. Du sagst: ‚Ich lauf zurück. Ich bin schon groß, ich weiß, wo die Gießkanne steht und wie viel Wasser man hineintun muss. Geht nur weiter, ich laufe euch dann nach.‘ Kannst du dir vorstellen, dass du so etwas sagst?“
    Erneut nickte das Mädchen auf meinem Schoß.
    „Ja, und deswegen gehst du ins Haus zurück. Weil du etwas Wichtiges darin zu erledigen hast. Weil du Mutti und Papa eine Freude machen willst. Sie und deine Brüder gehen inzwischen voraus zum warmen Badesee, dorthin, wo es wunderschön ist. Du wirst sie bald wieder treffen. Und wenn du nachkommst, werden sie dich herzlich begrüßen und umarmen.“
    Eine Weile schwieg ich und die Kleine ebenfalls. Flüchtig hatte ich den Verdacht, dass sie eingeschlafen sei, aber ich spann den Faden weiter in der Überzeugung, sie würde mich schon irgendwie verstehen.
    „An dem schrecklichen Tag, an dem ihr den Autounfall hattet, war es ganz ähnlich. Deine Eltern und deine Brüder sind vorausgegangen, an einen Ort, der noch unbeschreiblich viel schöner ist als euer Badesee. Wo die Sonne immer scheint, sogar im Winter, wenn wir hier frieren müssen. Nur du bist noch einmal zurückgekommen auf unsere Erde, wo es manchmal so kalt und finster ist. Du bist umgekehrt, weil hier etwas Wichtiges auf dich wartet. Irgendwo verborgen blühen Blumen, die deine Hilfe brauchen. Die verwelken würden, wenn du nicht da wärest, um sie zu gießen.“
    Vorsichtig streichelte ich das Mädchen. Es öffnete die Augen und setzte sich auf.
    „Wo ich jetzt wohne, sind keine Blumen auf den Fensterbrettern“, wandte es ein, und es klang wie eine ängstliche Frage.
    Ich lächelte. „Das hast du richtig beobachtet“, antwortete ich. „Noch sind diese besonderen Blumen versteckt. Denn du sollst erst wachsen und viel lernen und eine hübsche junge Dame werden, an der Mutti und Papa und deine Brüder ihre Freude haben, wenn sie aus der

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