Binde Deinen Karren an Einen Stern
gilt für das Beispiel „Verkehrschaos“. Die Beteiligten leiden am unverwirklichten Wert der Straßenkollegialität. Und auch diesen Wert bauen sie mit Pseudoangriffen auf vermeintliche „Feinde“ nicht auf, sondern eher ab. Wer ein Leiden mit derart primitiven Methoden ausbügeln will, wird immer ein Stück Humanität mit hinwegbügeln.
Fragen wir: Wie kann der tragischen Struktur unseres Daseins eine menschenwürdige Bewältigung gegenübergestellt werden? Frankls Denkansatz war genial. Er dachte: Wenn das urmenschliche Leiden stets mit einem
Werteverlust
verknüpft ist, dann kann der Leidende Aussöhnung und Akzeptanz mit seinem Schicksal nur finden, indem er selbst seinerseits neue Werte verwirklicht – sei es durch eine leidvermindernde Handlung, zu der er sich aufrafft, sei es durch eine heroische Haltung, mit der er Unverminderbares erträgt. Erfahrener
Werteverlust
und errungener
Wertezuwachs
mögen sich dann in seinem Inneren und in einer ihn übergreifenden Realität austarieren.
Was dies konkret in der Praxis bedeutet, möchte ich an Hand von zwei Schmerzbereichen aufzeigen, die uns sehr zu schaffen machen: dem Problem „Zurückweisung der eigenen Person“ und dem Problem „Vergänglichkeit des Lebens“.
Die Zurückweisung
der eigenen Person
Zurückweisungen der eigenen Person, also Beleidigungen und Demütigungen seitens der Mitmenschen, tun verflixt weh. In der Psychologie wird diesbezüglich meist dargelegt, dass sich das Opfer solcher Zurückweisungen zu leicht beleidigen und demütigen lässt. Es müsste sich nur entsprechend wehren, dann käme alles in Ordnung. Das ist mit Einschränkungen richtig. Gewisse Kränkungen können nur gewissen Personen zugefügt werden. Selbstmordandrohungen hysterischer Menschen z. B. wirken nur bei Personen, denen der damit Drohende etwas bedeutet. Oder auch bei solchen, denen er zwar nichts bedeutet, die aber entsetzliche Angst davor haben, an seinem etwaigen Suizid mitschuldig zu sein bzw. vor der Allgemeinheit als Schuldige dazustehen. Analog kann man nur Personen verspotten und ins Lächerliche ziehen, die ein schwaches Selbstwertgefühl haben und daher leicht verwundbar sind. Ihre Vulnerabilität lockt oft das Gespött der anderen geradezu hervor, wie man aus den Schulklassensoziogrammen weiß, in denen die empfindsamen Kinder, die gleich losheulen, diejenigen sind, auf denen „mit Genuss“ herumgehackt wird. Auch Gewalt kann man nur bei Schwächeren anwenden oder bei solchen, die sich für schwach und hilflos halten.
Doch die Tatsache, dass man jemandem etwas antun
kann
, rechtfertigt das Antun keineswegs und führt auch nicht folgerichtig dazu. Die Begründung: „Das Opfer lässt es ja mit sich machen“ ist kein Sinnargument. Ob man etwas kann oder nicht, ist eine Sache, aber ob dieses Etwas wert und würdig ist, getan zu werden oder nicht, ist eine andere Sache. Das heißt, genau genommen wird die Entscheidung eines Aggressors auch durch einen ihm geleisteten Widerstand, der die Fortsetzung seiner Aggression abbremst, zu keiner sinnvollen Entscheidung. Die Attacke, die er nicht wagt, ist noch keine Attacke, auf die er freiwillig – im Namen des Ethos und Logos – verzichtet.
Eine Mutter, deren 17-jähriger Sohn ihr im Zuge eines Streites ins Gesicht gespuckt hatte, brachte dies bei mir einmal deutlich zum Ausdruck. Sie sagte: „Mein Mann wirft mir vor, dass ich dem Jungen nicht sofort die Tür gewiesen habe. Er meint, dann hätte sich dieser sein flegelhaftes Benehmen schon abgewöhnt. Aber wenn mir mein Sohn nur deshalb nicht ins Gesicht spuckt, weil er einen Hinausschmiss fürchtet, kann er mich genauso gut anspucken, das ist mir dann egal. Mein Problem ist nicht, wie ich mich vor seiner Spucke schütze, sondern die Sorge um seine Charakterentwicklung.“ Die Mutter hatte nicht unrecht. Ihr Leiden war mit einer Taktik des Selbstschutzes allein nicht zu beheben.
Obwohl somit der Widerstand gegen Feindseligkeit die Feindseligkeit an sich noch nicht aufhebt, gibt es dennoch ein Sinnargument, das dafür spricht, dass man sich wehren soll. Wehren allerdings nicht bloß zum Zwecke, ein beschädigtes Selbstimage dadurch wiederherzustellen, dass man die erlittene Beleidigung mit einer Retourbeleidigung erwidert. Das Aug-um-Aug-und-Zahn-um-Zahn-Rezept hat sich in der von unzähligen Kämpfen befleckten Menschheitsgeschichte nie bewährt. Wehren kann man sich (wenn es sich nicht gerade um Notwehr handelt) auch in einer Form, die die Beleidigung
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