Binde Deinen Karren an Einen Stern
konstruktiv abzuschließen. Deshalb schlug ich vor, dass sie sich mit ihrem Vergewaltiger ein für alle Mal „ausspreche“ und auseinandersetze. Sie glaubte nicht recht zu hören, denn sie kannte den Mann nicht; auch mochte er gar nicht mehr am Leben sein. Dessen ungeachtet erklärte ich ihr, dass sie sich in ihrer Vorstellung mit ihm treffen und Zwiesprache halten könne, und dass es „für die Ewigkeit“ genauso sein werde, als sei sie ihm noch einmal begegnet. Sie solle sich einen stillen, abgeschiedenen Ort für das imaginäre Rendezvous aussuchen, und den Mann dort
auf sich zukommen lassen
, als sei er leibhaftig anwesend. Ferner gab ich ihr ein paar gedankliche Stützen mit auf den Weg.
Einige Wochen später erschien meine Patientin heiter und gelöst. Sie berichtete mir, sie sei an einem regnerischen Tag am Rande der Isar gewesen, weit und breit allein. Da habe sie meinen Rat befolgt und beschlossen, sich in ihrer Fantasie ihrem einstigen Vergewaltiger zu stellen. Wie in einem Wachtraum sei er auf sie zugeschritten, mit demselben schwarzen Haar, an das sie sich noch erinnern konnte. Er sei stumm vor ihr stehen geblieben, und schließlich seien sie gemeinsam dem Flussufer entlanggegangen. Da habe sie zu reden begonnen und ihm unterbreitet, welche Schmerzen, Ängste und Schamgefühle sie seinetwegen als Kind durchgemacht, und wie sie alles aus Unverständnis verschwiegen hatte. Wie es sie jahrelang belastet hatte. Er habe zugehört, ohne sich zu verteidigen.
Nach einer Weile sei sie ruhiger geworden, und mit der Zeit sogar ein bisschen neugierig auf ihn. „Jetzt sag mir, wer
du
bist“, habe sie ihn aufgefordert. „Wie bist du aufgewachsen, wie auf die schiefe Bahn geraten?“ Er habe ihr leise geantwortet, dass er in einem Kinderheim aufgewachsen sei, immer unter gleichaltrigen Jungen, dass er sich später nicht an Frauen herangewagt habe und unter dem erwachenden Trieb und in seiner Scheu angefangen habe, kleinen Mädchen aufzulauern. Sie sei nicht die Einzige gewesen … Mit der Zeit habe er diese schreckliche Phase überwunden und geheiratet; seither sei nichts Abartiges mehr vorgefallen. Aber er verstehe sehr wohl, was das Verschweigen des Vorfalls für sie bedeutet haben müsse, denn
auch er
habe ein Leben lang geschwiegen und seine furchtbare Schuld tief in seiner Brust vergraben. Jeder – seine Freunde, seine Frau auch – hätte ihn ja zutiefst verachtet, wenn er sich zu seinen Vergehen bekannt hätte …
Während die Patientin ihm – immer noch in ihrer Vorstellung – lauschte, entwichen allmählich ihre negativen Gefühle. Sie schaute in den Fluss, und ihr war, als ob die Wasser ihren Zorn hinwegschwemmten. Plötzlich hielt ihr Begleiter an, wandte sich ihr zu und kniete wortlos vor ihr nieder. Da beugte sie den Kopf zu ihm hinunter und sagte spontan: „Du armer Mann!“ Danach ging sie, ohne sich umzudrehen, auf ihrem Weg weiter, und der kniende Mann blieb hinter ihr zurück, wurde kleiner und kleiner und kleiner – und verschwand.
Die Patientin war frei.
Und was ist mit denen, die ein solches Bravourstück nicht zustande bringen? Auch sie haben eine Chance! Das Problem ist: Sie schleppen nicht nur den Groll über die fremde Schuld mit sich herum, sie stehen auch mit ihrem eigenen Versagen und Vergehen hilflos da. Denn wie könnten sie, die nicht vergeben, darauf bauen, dass
ihnen
dereinst vergeben wird? Doch vielleicht ist es das Wesen der Gnade, dass sie sogar „gegen den Uhrzeigersinn“ zu wirken mag, indem jene, die wider alle Vernunft darauf bauen, dass
ihnen
vergeben wird, endlich selber vergeben können?
Eine Weihnachtsgeschichte für alle Jahreszeiten
Weihnachten ist nicht nur im Dezember. Weihnachten ist eine Verheißung ohne Ablaufdatum. Die Ankunft des „Kindes“ ist die Idee des „euch zuliebe“ schlechthin. Es gibt viele Weisheitslehren rund um den Erdball, doch keine Botschaft ist von solcher Eindringlichkeit und Brisanz wie die Weihnachtsbotschaft. Gelegentlich erlebt man das in der angewandten Psychotherapie „hautnah“. Es gibt seelische Verhärtungen, die sich nach Jahrzehnten lösen. Es gibt grimmig-böse Menschen, die sich ohne ersichtlichen Anlass bekehren. Es geschehen Wunder, und der Psychologe hat keine Ahnung, wieso …
Eine kleine Weihnachtsgeschichte von einem unbekannten Autor, die ich einmal in einer Kirchenzeitschrift fand, symbolisiert diese über allem bis zuletzt offene Heilungschance auf kindlich schlichte Art. Dadurch avanciert sie geradezu
Weitere Kostenlose Bücher