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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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es.«
    »Ich will nur, dass Hund endlich ihren Rollstuhl bekommt. Das ist das gesetzlich verankerte Recht von Menschen, die keine funktionierenden Beine haben.«
    Wir vergessen, schrieb W. Tschubenko schließlich, dass das »gesetzlich verankerte Recht« in Wirklichkeit Unsinn ist. Es gibt Gesetze und es gibt Rechte, die einander fast immer widersprechen. Eine Gesellschaft, die sich nach den Grundsätzen der Gleichheit und Gerechtigkeit entwickelt, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Es existiert allerdings ein ideales Gleichgewicht. Wenn einer klüger ist, ist ein anderer dümmer. Wenn einer glücklicher ist, ist ein anderer unglücklich. Wenn es irgendwo besser ist, dann ist es woanders schlechter.
    Lena war damit nicht einverstanden, weil Helden von Natur aus mit dem Status quo nicht einverstanden sind und alles daransetzen, ihn zu zerstören, ohne einen Ersatz vorzuschlagen. Sie kämpfen nicht für, sondern gegen etwas. Wenn auf dem Planeten nur Helden leben würden, würde vom Planeten nichts als Scherben und Knochen übrig bleiben.
    Lena hat diese Mutmaßungen über ihren psychischen Zustand nie gelesen. Wir werden nie wissen, ob sie ihre Einstellung geändert oder anders gehandelt hätte, hätte sie W. Tschubenkos Theorien gekannt. Vielleicht spekulierte sie über die Beweggründe ihres aufrührerischen Geists oder erahnte sie auch. Der Unterschied zwischen dem Autor der Untersuchung und Lena besteht darin, dass W. Tschubenko das Ende von Lenas Geschichte bereits kennt – im Gegensatz zu Lena. Vermutlich machte sie sich gar keine Gedanken darüber, wie ihr unbefristeter Krieg mit den sozialen Diensten von San Francisco enden würde. Ihre Freundin Hund, die der junge Psychologe ohne zu zögern als jemanden beschrieb, der eine Opferrolle eingenommen hat, bat Lena mit matter Stimme:
    »Vielleicht sollten wir es bleiben lassen, Lena? Ich glaube, ich kann meine Beine langsam ein bisschen spüren. Unlängst habe ich geträumt, dass ich laufe.«
    Hund war nicht ganz ehrlich, sie konnte ihre Beine nicht spüren und spürt sie bis zum heutigen Tag nicht.
    »Wir können nicht mehr zurück«, widersprach Lena rigoros. »Wir werden siegen, die Wahrheit ist auf unserer Seite. Man kann nicht sagen, etwas ist schwarz, wenn es in Wirklichkeit weiß ist. Wir müssen den Unmenschen zeigen, wo der Hammer hängt.«
    »Ich wüsste auch gern, wo der hängt«, sagte Hund.
    »Das wirst du noch erfahren.«
    Einen Monat nach der Absage beantragten Lena und Hund eine Anfechtung des MSEK-Beschlusses. Der Berufungsantrag war jedoch nicht erfolgreich. Genauer gesagt, er wurde gar nicht geprüft, und zwar »in Ermangelung der erforderlichen Dokumente«.
    Wenn eine Behörde eine Absage erteilen will, werden die Dokumente niemals ausreichen. Und in diesem Land ist es so gut wie unmöglich, sie vollständig zusammenzutragen. Man fragt sich schließlich, warum das Amt nicht auch noch eine Bescheinigung über das Dahinscheiden des Antragstellers verlangt, was sich dann in etwa so lesen würde: »Hiermit wird behördlich bestätigt, dass der Antragsteller XY tot ist bzw. im Laufe der Antragstellung verstorben ist.«
    Außerdem stellte sich heraus, dass Lena nicht über die Berechtigung verfügte, gleichzeitig zu arbeiten und sich um Hund zu kümmern. Nur Sorgeberechtigte durften sich kümmern. Für diese Liebenswürdigkeit bekamen sie vom Staat fünf Hrywnja im Monat bezahlt.
    »Wie soll man von fünf Hrywnja im Monat leben?«, fragte sich Lena. »Und wie kann ich sorgeberechtigt werden, wenn Hund offiziell nicht behindert ist?«
    Lenas Fragen blieben ohne Antwort. Man sagte ihr:
    »Wir handeln im gesetzlich vorgegebenen Rahmen.«
    »Eure Gesetze sind der reinste Obskurantismus! Sie sind nicht dazu da, um Leuten zu helfen, sondern um ihnen die Hilfe zu verweigern!«
    Dann begann Lena, vor dem weißen Haus von San Francisco zu demonstrieren. Sie nannte es »weißes Haus«, weil es wirklich weiß war – ein mehrstöckiger, massiver, sichelförmiger weißer Bau. Dort amtierten praktischerweise alle lokalen Behörden, deshalb eignete er sich besonders gut, um davor zu protestieren oder zu streiken. Lena konnte sich nicht entscheiden, gegen welche Behörde sie ihren Unmut richten sollte.
    Sie trug Hund zum Platz vor dem Gebäude, setzte sie auf das Podest des Monumentaldenkmals »Die drei Banduraspieler« und entrollte ein Plakat, auf dem stand: »Sie behaupten, sie ist kein Krüppel!«

11    Erklärender Bericht
    Von
    Bohdana Iwaniwna

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