Bios
wurde, seltsam, wie die Psyche Ruhe aus der Katastrophe gewinnt. Traumhaft diese Nautiluskammern der Normalität, obwohl die IOS faktisch ein gelähmtes und dem Untergang geweihtes Habitat war. Die Krise war zwar akut, aber irgendwie auch träge, vergleichbar einem Segelschiff, das unter Deck beschädigt ist und sich anfangs mit der allersanftesten Schlagseite begnügt.
Der Palmtop fiepte erneut, eine hereinkommende Nachricht von hoher Priorität. Er sinnierte. Was gab es Dringendes, wenn sowieso alles den Bach runter ging? Ihn erwartete bestenfalls ein Exil im Kuiper-Gürtel. Zur Erde konnte er nie mehr zurück, die Familien würden ihn aufknüpfen; und der Mars hatte zu viele Gefängnisse und Auslieferungsabkommen. Er war kein Verbrecher, nicht in seinen Augen, wohl aber in den Augen der Familien.
Er langte nach dem Palmtop, die Finger urplötzlich taub vor Angst.
»Sir.« Es war Leander für Medizin. »Wir haben einen Stapel von Anrufen aus Yambuku, man verlangt umgehende Evakuierung. Avrion Theophilus möchte Sie unter vier Augen sprechen.«
Das Letzte, was Kenyon Degrandpre jetzt brauchen konnte, war irgendein Aristokrat, der ihm gegenüber den Vorgesetzten markierte. Gott, doch jetzt nicht. »Sagen Sie Theophilus, ich kann seinem Wunsch nicht nachkommen. Aber machen Sie Yambuku klar zur Evakuierung.«
»Und wo sollen…?«
»Im letzten Turing-Dock. Und verhängen Sie Quarantäne. Am besten, Sie lassen die Leute im Shuttle.«
»Sie meinen – auf unbestimmte Zeit?«
Ja, auf unbestimmte Zeit; genauer, bis das Rettungsmodul gestartet war – musste man denn alles aussprechen? »Sonst noch was?«
»Ja.« Leanders Stimme klang flach. »Kapsel Delta berichtet erste Symptome.« Diese Kapsel war praktisch ein Schlafsaal im Anschluss an die Kapsel für Maschinen- und Gerätebau. »Natürlich haben wir die Schotts gleich dichtgemacht, aber…«
Der Mann auf dem Bildschirm zuckte die Achseln.
Degrandpre verstand.
Eine Garantie gab es nicht.
Dreiundzwanzig
Der äußere Ring war verseucht, das meldeten die Nanosensoren in den betroffenen Wänden. Der erste Schutzwall war gefallen. Bis zum totalen Zusammenbruch, so Franklins Überzeugung, konnte es nicht mehr weit sein.
Avrion Theophilus ging mit dem Planetologen in die Shuttle-Kontrollkabine über dem Kern von Yambuku – in den ›Adlerhorst‹, wie Franklin die Kammer nannte – um die Lage zu besprechen.
Dieter Franklin hatte den leicht irren Blick eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist und sich damit abgefunden hat. Er redete zu unbefangen. Doch Theophilus hörte ihm zu.
»Es hat immer mal wieder Dichtungsprobleme gegeben, bei allen Bodenstationen, vom ersten Tag an. Aber nicht so wie jetzt. Was wir hier erleben, ist ein massiver, konzentrierter Angriff.« Der Planetologe runzelte die Stirn. »In meinen Augen ist Isis eine Bestie. Sie will rein. Sie will uns. Sie hat alle chemischen Verbindungen durchprobiert, alle Schlüssel, um den einen zu finden, der ins Schloss passt. Ein langwieriges und frustrierendes Unterfangen, das uns in Sicherheit wiegte. Aber jetzt hat sie ihn. Die Bestie hat den Schlüssel, und sie braucht ihn nur noch zu benutzen und geduldig eine Tür nach der anderen aufzuschließen. Weil es nämlich zu spät ist, die Schlösser auszuwechseln. Kurz und gut: Wir haben verloren.«
»Sie finden also auch, dass wir räumen sollten.«
»Wenn wir weiter atmen wollen, bleibt uns keine Wahl.« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee – ein mehr als schmeichelhafter Name für dieses bittere Gebräu. »Andererseits, wir haben zwei Leute draußen.«
»Hayes.«
»Tam Hayes und Zoe Fisher. Sie scheint noch zu leben.«
»Eingeschlossen unter diesen Erdhügeln.«
»Zugegeben.«
»Wenn ich Ihrer Logik folge, dann können wir nichts mehr für sie tun, ohne die ganze Belegschaft zu gefährden.«
»Wir sind längst so gefährdet, wie Menschen gefährdeter nicht sein können. Das ist nicht der Punkt, Sir.«
»Ich habe bereits die Evakuierung verlangt und angeboten, die Lage der beiden vom Orbit aus zu überwachen. Nennen Sie mir eine Alternative.«
»Wir müssen so viele Leute wie möglich aus dem Gefahrenbereich bringen. Also evakuieren wir die Station, lassen sie aber in Betrieb. Nano-Instrumente und Roboter können den Kern noch tagelang kontrollieren. Von der IOS aus können wir mit Hayes in Verbindung bleiben und sollten die beiden es wirklich zurück nach Yambuku schaffen, können wir immer noch den Shuttle schicken. Es würde an
Weitere Kostenlose Bücher