Bis ans Ende der Welt
drei Euro fünfzig quatschen kann. Hier diente Fortschritt dem Menschen, daran war nicht zu zweifeln. Nur hatte ich wieder unter den Radfahrern zu leiden. Sie kamen in ganzen Schwärmen. Offenbar war das hier ein günstiges Terrain für sie. Es gab kein Entkommen. Vor einer Bahnbrücke ließ ich mich erschöpft nieder und packte die Wurstsemmel aus. Aber auch da ließen sie mich nicht in Ruhe und keuchend — der Weg stieg gerade da zur Brücke an — riefen sie mir zu, auf der anderen Seite sei es viel schöner, da sei ein See. Woher wollten sie wissen, ich mochte am See und nicht im Straßengraben meine Brotzeit nehmen? Also gab ich auf und zog weiter zum See, der nicht nur schöner als der Platz am Bahndamm, sondern auch radlerfrei war. Die Radler blieben nämlich, wie es sich gehört, in der vorgelagerten Gastwirtschaft hängen.
An so einem Sonntag hat ein Großstadtmensch nach einem ausgiebigen Frühstück nun mal das Rad zu besteigen und nach einem Biergarten zu suchen. Möglichst einen, wo er den Flurnachbarn nicht trifft. Dafür fährt er gerne ein paar Kilometer. Aber offenbar war hier eine natürliche Grenze erreicht. Der nächste Biergarten zehn Kilometer weiter gehörte schon den Autofahrern. Im Gegensatz zu den Radlern, die stets irgendwie energisch, begeistert und sehr motiviert wirkten, näherten sich die Autofahrer dem ersehnten Ziel in langer Kolonne ehrfürchtig langsam und machten dabei lange Gesichter.
Ich ergab mich dem bunten Treiben, auf Vorrat gestärkt von der Herrlichkeit einer Waldschlucht und eines obenliegenden Hochmoors, durch die mein Weg führte. Endlose Kilometer weiter durch den Wald, verdeckt durch herrliche runde Hügel, lag schon Wessobrunn. Man könnte fast daran vorbeilaufen. Eine tausendjährige Eiche steht dort angeblich, irgendwo hinter dem Kloster versteckt. Ich aber hatte vor der Vesper an der Pforte zu sein, denn später, so hieß es, machten die Schwester nicht mehr auf. So eilte ich an einer Gruppe indischer Nonnen vorbei, die laut Urdu schnatternd wie aufgescheuchte Hühner ihrem indischen Vorgesetzten folgten. Was machten wohl denn die da? Aber die Schwester Oberin stellte es klar: „Sie verdienen hier Geld und schicken es nach Hause. Denn dort haben es die Leute sehr arm.“ Bei der Vesper waren indes keine Inder zu sehen. „Die beten für sich allein,“ erklärte die Schwester Oberin später. Alles klar. Sie klagte, daß von den Pilgern heutzutage noch kaum einer nachfragt, am Gebet mit teilnehmen zu dürfen: „Wer weiß welche Motive die haben. Richtige Pilger sind wohl die wenigsten von ihnen.“ Zur Bestätigung erzählte mir dann im Hof eine Pilgerin, die mit drei Freundinnen auch im Kloster übernachtete, diese hätten mit der Kirche „eigentlich nichts am Hut“ und wären statt dessen ins Gasthof gegangen. An diesem Abend aber sangen die Schwestern wie die Engel, und mich reuten weder Gasthof noch die sehr einfache Unterkunft eines längst aufgelösten Mädcheninternats. So fügte es sich, daß ich der tausendjährigen Eiche an diesem Tag nicht ansichtig wurde.
Rottenbuch, km 237
In Wessobrunn sollte mein Glück als unbeschwerter Pilger enden. Und zwar vor einem Schuhgeschäft, in dessen Schaufenster feinste Wanderschuhe zu sehen waren. Der erbärmliche Zustand meiner Absätze war nicht mehr zu leugnen. Es half auch kein Klebstoff. Bis nach Santiago werden sie es bestimmt nicht mehr schaffen. Die Vernunft riet, lieber hier und jetzt für Ersatz zu sorgen, als vielleicht an einem weniger passenden Platz suchen zu müssen. Auch das Gemüt freute sich auf die Anschaffung, denn die Schuhe im Schaufenster sahen echt lecker aus. So unterlag ich der Versuchung, ging hinein und verschwendete den Vormittag und die Hälfte meiner Barschaft auf den Kauf. Und es fügte sich, daß ich wegen der fehlenden Zeit auch an diesem Tag die tausendjährige Eiche nicht zu Gesicht bekam. Und so ist es bis heute geblieben.
Nun schritt ich wacker aus, um die fehlende Zeit aufzuholen. Eine schöne hügelige Waldlandschaft, die unter den neuen Sohlen flink dahin schwand. Ich war mit mir und der Welt mehr als zufrieden. Alles wendete sich zum Guten, der Herr sah nach mir. Doch schon bald meldete die Ferse ein verdächtiges Brennen. Bis dahin hatte ich keinerlei Fußbeschwerden. Ich lief locker und munter wie eine Hirschkuh. Morgens und abends schmierte ich die müden Sohlen mit einer patentierten Salbe aus Hirschtalg und Urin ein und hielt mich für unverwundbar. Trotzdem schien
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