Bis ans Ende der Welt
ist traurig, man weint. Man ißt, wenn man hungrig ist, ruht, wenn man müde ist. Was nicht ist, das gibt es nicht, und doch kann man sich alles erträumen. Heute ist heute, und morgen kommt erst morgen, und der Morgen ist heute ohne Bedeutung. Heute ist endlos, ich bin heute, es wird immer heute sein, ich werde immer sein. Es gibt kein Ende, vertraut auf Menschen und den Herrn. Oder doch lieber anders herum.
Die Herberge, ein riesiger Bau, der ehemals als Lehrlingsheim oder ähnliches diente, lag sehr praktisch direkt im Zentrum, war allerdings ein wenig zu laut und ziemlich verkommen. Aber wir konnten einfach und ohne Umwege in die Stadt gelangen, Essen gehen und Menschen begegnen. So viele auf einmal sah ich das letzte Mal in Genf, aber dort fühlte ich mich nicht mit einbezogen. Oh, das vornehme Genf, hier aber herrschte das Volk. Wir machten das Beste daraus und hielten Gespräche mit Unbekannten. Es war einfach, wir waren einfach und gut drauf. Ich denke, jeder wäre es nach einem Tag in stehender Hitze auf den staubigen Wegen des Quercy. François stellte fest, das mir Frauen nachsehen. „Fast verzweifelt guckte sie dich an,“ regte er sich auf. „Nur deshalb hat sie sich mit mir überhaupt unterhalten!“ Das ehrte meine Eitelkeit, aber ich hatte keinen Anteil daran. Darüber hinaus verlangten galante Gespräche eine höhere Sprachfertigkeit, als ich im Französischen vielleicht aufbringen konnte. Oder auch nicht. Ich erklärte ihm, was mir von Jean Luc erzählt wurde, ich sähe einem populären französischen Weltumsegler sehr ähnlich. Allerdings war da ein Haken. Er sei erst kürzlich vom Mast gefallen und gestorben. François dachte darüber eine Weile aufrichtig nach. Er war wirklich goldig. Ich nahm es nicht ernst, ich verstehe nichts von Frauen und merke nicht, wenn sie mir nachsehen. Wenn man nur die eine Richtige finden könnte, die auch dabei bleibt. Das wäre mir lieber. Wir gingen in ein gutes Restaurant und aßen und tranken, was uns einfiel, ohne uns von den Kosten allzu sehr schrecken zu lassen. Wenn man sich umsah, war der Laden voll anderer Pilger, die wir schon unterwegs trafen. Die Nepal-Amerikaner, die zwei deutschen Ehepaare, ein paar Studenten von der Sorbonne. Offenbar ging es ihnen ganz ähnlich wie uns. Alle hatten wir das Bedürfnis nach Menschen und Geselligkeit. François aber klagte, die Studenten seien zu arrogant, da sie uns mit keinem Wort beachten, obwohl wir uns unterwegs so oft begegneten. Was sollte ich dazu sagen? Sollten doch die Herren Studenten tun, was ihnen beliebt.
Lascabanes, km 1666
Am nächsten Tag startete ich eingedenk der kommenden Hitze schon sehr früh. François begleitete mich noch über die herrliche Pont Valentré mit, machte dort viele Fotos und einiges Aufsehen, während ich in die steile Felswand einstieg, mit der die Tagesetappe begann. Oben auf dem Kalkplateau angekommen, sah ich noch einmal zurück auf die Brücke, François und die mittelalterliche Stadt dahinter, und es war mir ein wenig mulmig dabei. François wedelte immer noch fleißig mit beiden Armen zum Abschied. Am Vorabend schenkte er mir noch eine Postkarte von Conques mit der Pilgerherberge darauf. Ziemlich romantisch. Ich schickte sie Elisabeth mit dem Versprechen, sie auf dem Heimweg in Versailles zu besuchen. „Je te port dans mon cœur!“ Ich machte ein Kreuzchen an der Stelle, wo wir uns getrennt haben. Ich bat den Herrn, auf François, Elisabeth, Joanna, Stephanie und all die anderen Menschen, die mich auf meinem Weg begleitet haben und mir teuer geworden sind, ein Auge zu haben. Wer und wie auch immer sie waren, sie waren das Salz der Erde. Damit zog ich weiter durch trockene Täler und Schluchten, in denen die Luft vor Hitze flimmerte, und verbreitete gute Wellen überall um mich herum. Der Herr sagte nichts dazu, wie er nie etwas sagte, aber immerhin ging er wieder mit, und er schien mir nicht zu grollen, weil ich mich in der letzten Zeit vielleicht mehr mit eitlen irdischen Dingen als mit ihm beschäftigte. Immer mehr begriff ich, warum man eine solche Reise allein unternehmen muß, sosehr man sich sonst nach menschlicher Gesellschaft sehnen mag.
Schwitzend und keuchend erklomm ich die Schlucht und passierte Les Mathieux, mein erstes Dorf an diesem Tage. Alles wie ausgestorben, wie üblich. Ich vermutete, daß die meisten Menschen hier auswärts arbeiten und erst am Abend nach Hause kommen. Der Führer wußte dagegen zu berichten, daß die Engländer hier mit Vorliebe
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