Bis ans Ende der Welt
unterwegs war. Das gab Mut, die Welt ging nicht unter, wenn Verträge wie vereinbart eingehalten wurden.
Der Waldweg wurde bald wieder fester, verzweigte, der Camino folgte dem kleineren, dann wieder nur einem ausgetretenen Pfad. Überall trockene Blätter, gute schwarze Erde unter alten, knorrigen Eichen und Buchen, fast kein Unterholz. Der Wald aber schützte vor Wind und Regen. Es rauschte noch mächtig in den Kronen. Immer wieder leerte eine von ihnen ihre Wasserlast über meinen Kopf. Aber es war offensichtlich, daß Roncesvalles nicht mehr zu weit sein konnte. War auch nicht, auch wenn sich der Weg noch eine ganze Weile hinzog. Plötzlich waren Stimmen zu hören, ich passierte ein paar Spaziergänger, und dann waren schon die ersten Mauern und Türme zu sehen. Schilder lotsten die Pilger zum Empfang, wo bereits reger Betrieb herrschte. Eine Art Kommission tagte dort hinter einem Tisch und gab den Pilgerstempel nach einem Interview. Sogar ein Formular hatte man auszufüllen. Mir war alles recht, machte anfangs gar Eindruck auf mich, regnete es doch hier nicht, und der zugegebenermaßen kalte Luftzug war rein gar nichts gegen den Sturm draußen. Doch dem Prüfbeamten gefiel der englische Pilgerausweis nicht, den ich von John anstelle meines bereits vollgestempelten deutschen geschenkt bekam. Wo ich das Ding denn herhabe, wenn ich aus Deutschland komme? fragte er spitz. „Woher denn? Geschenkt, was sonst.“ Ich ließ ihn absichtlich im Zweifel, ob womöglich mit all den vielen Stempeln darin oder ganz leer oder gar geraubt und gestohlen. Wenn man gerade im Regen die Pyrenäen zu Fuß passierte, und sei es darum, daß es nur vierzehnhundert Höhenmeter sind, muß man sich keine Idiotien gefallen lassen. Das sah der Mann auch ein und versuchte das Gesicht zu wahren, indem er mir einen neuen Pilgerausweis zu verkaufen versuchte. Ich verweigerte. Er dachte nach, beriet sich mit Kollegen, dann spendierte er zögernd den schönen Pilgerstempel und wünschte mir „viel Spaß“.
Damit war ich entlassen, aber wohin? Von Nässe und Kälte angetrieben absolvierte ich die siebenundzwanzig Kilometer in nur knapp fünf Stunden. Praktisch ohne anzuhalten. Nicht einmal, um etwas zu essen. Und bei dem Wetter verging einem sogar die Lust, etwas zu trinken. So kam ich zu früh an, und die Herberge war für uns Pilger noch geschlossen. Einen warmen, trockenen Platz zum Warten gab es auch nicht. Man solle ins Restaurant gehen, empfiehl das illustre Empfangskomitee. Das hielt ich für eine Abzocke, aber sei es drum. Es war immer noch besser, als in nassen Klamotten in diesem zügigen Stall zu hocken, sich zu langweilen und eine Lungenentzündung zu holen. Wenigstens mußte ich nicht allein essen gehen. Ich kannte mittlerweile so viele Pilger, daß sich immer eine gute Gesellschaft finden ließ. Also gingen wir zu viert essen, was schwieriger war, als wir dachten. Der Ort war voller Touristen, die aufgeregt und laut schwatzend hin und her rannten und keine Ruhe und Kontemplation aufkommen ließen. Und bei dem miesen Wetter hatten alle dann nur ein Ziel – das Wirtshaus. Entsprechend eng ging es dort zu. Es rauschte wie in einem Bienenstock. Platz gab es freilich keinen, auch keinen, wo wir unser Gepäck und nasse Klamotten hätten loswerden können. Doch während wir unschlüssig im Eingang herumstanden, wurde zu unserem Glück gerade ein Tisch frei. Und sofort war ein Kellner da und eine Minute später auch das Essen. Doch kaum waren wir mit dem Essen fertig und wollten es uns bequem machen, kam der Kellner zum Abkassieren und schmiß uns kurzerhand hinaus. Andere Gäste warteten schon in der Tür. Draußen war alles naß und kalt, und bei aller Menschenliebe, das Weggehen fiel uns nicht leicht. Meine französischen Freunde hatten die Nase voll, verzichteten auf die Herberge und quartierten sich im Hotel ein. Ich dagegen bezog einen Warteposten vor dem Herbergseingang. Dort entdeckte mich der kleine Holländer, den ich in Saint-Jean-Pied-de-Port kennenlernte, und brachte mich als „guten Freund“ gleich unter. Das konnte er, weil das Haus wieder einmal irgendwelchen Holländern gehörte, bei denen er „eine Weile aushelfen“ wollte.
Eine Herberge wie diese sah ich noch nicht. Eigentlich war es eine große romanische Kirche, die bei uns ohne Scham als Kathedrale passieren würde. Über hundert doppelstöckige Betten drängten sich darin, unten in der Krypta bauten die geschäftstüchtigen Holländer für Mann und Frau
Weitere Kostenlose Bücher