Bis ans Ende der Welt
jeweils vier Duschen, Waschbecken und Toiletten. Auch zwei Waschmaschinen und Trockner waren da, für die es jeweils vier Euro zu löhnen gab. Es gab keine Möglichkeit, um die nassen Klammotten zu trocknen oder auch nur ein Teewasser aufzukochen. Mit anderen Worten, es war die gröbste Pilgerabzocke, die mir bis dahin begegnet ist. Ich überschlug, daß dieses Haus in einer Saison über hunderttausend Euro netto machte, wobei der laufende Betrieb allein von den Nebeneinnahmen getragen werden konnte. Nicht einmal Steuern hatten die Betreiber zu zahlen, es war ja schließlich eine gemeinnützige Einrichtung. Als später immer mehr nasse, halberfrorene Pilger ankamen, und manche von ihnen waren wirklich in einem erbärmlichen Zustand, darunter auch mein Wegbegleiter Philippe, standen die Holländer in der Tür rieben sich die Hände und freuten sich wie die Schneekönige, das sei der wahre Geist des Camino, man müsse ja leiden, Leiden gehöre unbedingt dazu, wen der Herr liebe, den züchtige er. Ich fragte, ob sie denn den Camino gegangen seien, aber sie lachten nur. Sie hätten doch so viel zu tun, um den Pilgern zu helfen. Ich hätte sie in den fetten Hintern treten und in den nassen Wald jagen können. Das würde aber meinen „Freundesstatus“ gefährden, also brachte ich Philippe unter und verdrückte mich dann in die ehemalige Krypta, um zu lesen und Tagebuch zu schreiben. Als ich dann kurz wieder hochging, stahl jemand mein Schreibzeug. Wohl eine gute Art und Weise, um eine Pilgerschaft anzutreten. Mag sein, daß es in dem Lederetui teuerer aussah, als es in Wirklichkeit war. Anfangs ärgerte ich mich über das Mißgeschick, dann aber war ich doch sehr froh, daß der Dieb das Schreibzeug nahm, jedoch das Tagebuch verschmähte. Einen neuen Füllfederhalter konnte ich mir in Pamplona kaufen, doch ohne das Tagebuch hätte ich sozusagen die Erinnerung verloren. Von den Schreibpflichten nun befreit, kehrte ich zurück zur Schlafstelle und flirtete mit zwei blutjungen Mädchen aus Ostdeutschland, was mir große Komplimente von Philipp brachte, ich würde überall lauter schöne Mädchen anziehen. Das tat meiner Eitelkeit sehr wohl, tröstete mich fast vollkommen über den Verlust der Schreibsachen, und Philipp machte ein schönes Foto von mir und nannte es: Voila, le Bonheur! Und wenn ich mir dieses Foto heute ansehe, dann muß ich ihm unbedingt recht geben. Habe ich denn je glücklicher ausgesehen?
Die Pilger kamen nun in Scharen hinein, und der riesige Schlafsaal füllte sich schnell. Von dem oberen Bett konnte ich ungeniert alles beobachten und Gesprächen zuhören. Meist junge Leute. Es hallte in einem Dutzend Sprachen her. Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch. Selten osteuropäische Sprachen. Interessanterweise gab es auch viele Asiaten. Oft waren es koreanische Rucksacktouristen, die wohl katholisch sein könnten, doch auch einen alten, etwas verschrumpften Japaner, der, wie ich erst später erfuhr, Junzo hieß. Ein französischsprechender Italiener aus Australien mit dem schönen deutschen Namen Armin, groß und wohngenährt, gab freizügig seine Erfahrungen mit dem italienischen Wehrdienst weiter. Es ging darum, ob man auf dem oberen Bett besser schlafen könne, als auf dem unteren. Danach ließ er sich von einem der Zuhörer auf dem Rücken trampeln, um die Thaimassage zu veranschaulichen. Es ging sehr lebhaft zu und war spannender als Saint-Exupéry oder die Bibel zu lesen.
Der Tag schloß mit einem herrlichen Hochamt in der Kathedrale, das für die Pilger dreisprachig in Spanisch, Französisch und Englisch gehalten wurde. Deutsche und Portugiesen gingen leer aus. Aber die Worte der Liturgie klangen wie Glocken, der Weihrauch trübte die Sinne, und die Augen der Pilger glänzten vor Rührung. Der Herr sah zu und spendete Segen. Ich glaube, er war zufrieden — und alle anderen auch.
Larrasoaña, km 2093
Damit war an diesem ersten spanischen Tag alles getan, was getan werden konnte, was man aus normalen Leben ja gar nicht kennt, denn da gibt es immer etwas, was man noch tun könnte, sei es auch, nur sinnlos die Zeit vor dem Fernseher totzuschlagen. Hier aber nicht, hier blieb nur ein guter Schlaf übrig, um am nächsten Tag wieder fit zu sein. Zumindest für die ersten paar Kilometer. Auch hatte ich vor, früher als sonst aufzustehen, um dem jetzt schon absehbaren Streß bei der Morgentoilette zu entgehen. Denken aber half wenig, da andere ähnlich dachten. Trotzdem ging es am
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