Bis ans Ende der Welt
Karl der Große? Die Historiker mögen beide, hatten allerdings nicht unter ihnen zu leiden. Frankreich bricht sich den Hals für Napoleon, und Karl ist von der Mutter Kirche gar heilig gesprochen. Mir aber scheinen sie beide recht üble Kerle gewesen zu sein, die hauptsächlich Krieg führten und dem Volk viel Leid bescherten. So gesehen spielte es keine Rolle, welchem der beiden ich folgte. Schließlich wollte ich im Gegensatz zu ihnen Spanien nicht erobern. Allerdings stand auf Karls Seite die schönere Landschaft, wenige Menschen und die Tradition. Doch was, wenn schlechtes Wetter kam? Noch so früh am Morgen war es nicht einzuschätzen. Gestern war es noch schön und warm, aber im Gebirge galt das nichts. Erfahrungen mit den lokalen Verhältnissen hatte ich auch keine. Natürlich blieb der Herr als letzte Instanz, doch hieß es deshalb noch nicht, einfach die Hausaufgaben sausen zu lassen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. So schlenderte ich langsam die reizvolle Rue de la Citadelle hinunter bis zur Église Notre-Dame-du-Pont aus dem 15. Jahrhundert, mit der die Altstadt endet. Ihr Turm ist zugleich das Stadttor. Das gibt es wohl sonst nirgends. Ich wollte hinein, erstens aus Prinzip, zweitens um mein Problem mit dem Herrn zu besprechen, aber zu meinem Bedauern war die Tür um diese frühe Stunde noch zu. Die Touristen schliefen ja, und alles war wie verlassen. Ersatzweise blickte ich ein paar romantische Minuten wehmütig von der niedrigen Brücke auf den flinken Lauf des Flüßchens Nive darunter. Das Wasser war kristallklar, verspielt und reizvoll anzusehen. Ein Trost. Weniger so die Touristenläden der Unterstadt. Hier herrschte nur das Geld. Aber ich ließ mir absichtlich Zeit und hielt Ausschau nach einem Wink des Herrn. Das konnte alles Mögliche sein, doch nichts kam. Am Ende stand ich vor dem letzten Wegweiser und hatte mich selbst zu entscheiden. Der Himmel war immer nach wie vor uniform grau und gab seine Absichten nicht frei. Noch eine Weile drückte ich mich unschlüssig herum. Der Herr sollte doch die Entscheidung treffen. Aber nein. Also wählte ich trotzig den riskanteren Weg. Er hätte mich ja rechtzeitig warnen können, oder? Aber ich folgte nur meinen Interessen — mehr Natur, weniger Menschen, weniger Streß mit ihnen. An diesem Morgen hatte ich nämlich in der Herberge einen idiotischen Streit mit einem amerikanischen Weltenbummler. Nach anderthalb Tagen Stadtleben war das wohl der letzte Tropfen in einem übervollen Faß. Der Kerl wollte „nur ganz schnell“ seine Hände in meinem Waschbecken waschen, wogegen ich freilich nichts hätte, außer daß er sich dafür dann viel zu viel Zeit nahm, während ich naß und halbrasiert auf ihn warten mußte. Weil ich dachte, er wüßte es vielleicht nicht, sagte ich ihm, einen Stock tiefer sei auch noch ein Bad. Er aber wurde gleich patzig. Warum ich dann nicht lieber selbst hingehe? Leise, nur so für mich, kommentierte ich auf gut Deutsch: „Du Arschloch!“ Denn was soll man einem sagen, dem man gerade einen Gefallen erwies, und der dann noch frech wird? Ich nahm nicht an, er würde es hören oder gar verstehen können. Aber er hörte und verstand und war beleidigt. Man solle nicht „unanständige Wörter“ benützen, und ich sei ein „schlechter Mensch“. So ein hinterfotziger Pharisäer! Andere anmachen, und dann ihnen eine Epistel halten. Typisch Amerikaner — rücksichtslos, aber prüde. Ich hätte ihm mehr von der derben Kost geben mögen und dachte etwas neidisch an die alte Frau einst in Bosnien, die einen renitenten Busfahrer fluchte, die Natter möge das Wasser seiner Augen saufen. Und so fort. Auf dem Balkan versteht man sich auf Flüche — und wie man sie wahr werden läßt. Das hätte den feinen Ami gewiß mit Grauen überhäuft und ihm zu denken gegeben. Aber ich widerstand der Versuchung, eingedenk Andreas Mahnung damals in München, ich solle keine Händel suchen. Als ob sie es geahnt hätte. Nun aber hatte ich zumindest für heute genug von Menschen, wollte lieber allein mit dem Herrn wandeln. Auch wenn ich Gewissensbisse hatte. Man sollte sogar seine Rivalen lieben und sie nicht gleich „Arschloch“ schimpfen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. [53] So war es vielleicht kein Zufall, wenn der Herr hier und jetzt
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