Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
Prolog
Wenn sie Dominic Milano mit einem einzigen Wort hätte beschreiben müssen, hätte sie sich für »unerschütterlich« entschieden, dachte Audrey Callahan. Untersetzt, hart, beginnende Glatze – er sah aus, als hätte er gerade für die Hauptrolle des »bulldogengesichtigen älteren Privatdetektivs« vorgesprochen und die Rolle prompt ergattert. Er war der Inhaber von Milano Ermittlungen, und unter seiner Aufsicht schnurrte das Unternehmen wie ein Uhrwerk. Dominic ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Nie erhob er die Stimme. Nichts brachte ihn je aus dem Tritt. Vor seinem Umzug an die Nordwestküste des Pazifiks hatte er nach über tausend gelösten Mordfällen der Kriminalpolizei von Miami den Rücken gekehrt. Er hatte alles gesehen und alles gemacht, nichts konnte ihn mehr verblüffen.
Deshalb tat es ihr gut zu sehen, wie seine buschigen Augenbrauen langsam nach oben krochen.
Dominic hob das oberste Foto von dem Stapel auf seinem Schreibtisch. Auf dem Bild sah man Spenser »Spense« Bailey eine Straße entlanglaufen. Auf dem nächsten beugte sich Spense vornüber. Dann nahm er die klassische Pose des Werfers beim Baseball ein, das rechte Bein angezogen, weit zurückgelehnt, mit einem Tennisball in der Hand. Was schön und gut gewesen wäre, wenn Spense seinem Hausarzt zufolge nicht an einem Bandscheibenvorfall gelitten hätte. Er hatte ein Lager aufgefüllt, als ihm ein handgeführter Gabelstapler weggerutscht war; seit diesem Betriebsunfall litt er permanent unter schrecklichen Schmerzen. Manchmal sah man ihn auf einen Stock gestützt oder hinter einer Gehhilfe in der Nachbarschaft umherhinken. Er konnte nur mit fremder Hilfe in ein Auto steigen und nicht selbst fahren, weil die angegriffene Bandscheibe einen Nerv im rechten Bein abklemmte.
Dominic sah Audrey an. »Tolle Fotos. Wir sind dem Kerl seit Wochen auf den Fersen, nichts. Wie sind Sie da rangekommen?«
»Durch ein sehr kurzes Tennisröckchen. Er humpelt jeden Dienstag und Donnerstag auf dem Weg zur Krankengymnastik an einem Tennisplatz vorbei.« Mühe hatte es ihr nur gemacht, den Ball so zu treffen, dass er über den hohen Zaun sauste. Ein lautes Stöhnen, ein besonders schwungvoller Gang, und schon hatte sie ihn gehabt. »Sehen Sie sich den Rest an. Es kommt noch besser.«
Dominic blätterte den Stapel durch. Das nächste Foto zeigte Spense mit einem blöden Grinsen im Gesicht und zwei Tassen Kaffee, die er anmutig wie ein Rehbock zwischen den Tischen im Starbucks hindurchmanövrierte.
»Sie haben ihn zum Kaffee eingeladen?« Dominics Brauen krochen noch höher.
»Natürlich nicht. Er hat mich eingeladen. Als Zugabe gab’s Fruchtsalat.« Audrey grinste.
»Diese Arbeit macht Ihnen echt Spaß, wie?«, bemerkte Dominic nachdenklich.
Sie nickte. »Er ist ein Lügner und Betrüger, der seit Monaten auf Kosten seiner Firma krankfeiert.« Außerdem hält er sich für oberschlau. Er hatte sie praktisch angefleht, ihn auf Normalmaß zu stutzen, und sie besaß die richtige Gartenschere dafür. Schnipp-schnapp.
Dominic legte das Kaffee-Foto weg und hielt inne. »Ist das hier, wofür ich es halte?«
Das nächste Bild zeigte Spense, wie er einen Mann im Trainingsanzug von hinten gepackt hielt und ihn rücklings kopfüber auf eine Bodenmatte beförderte.
»Hier zeigt Spense mir einen Schulterüberwurf.« Audrey lächelte breit. »Anscheinend ist er Amateurringer. Zuerst geht er im ersten Stock zur Krankengymnastik, und sobald die vorbei ist, steigt er die Treppe rauf und trainiert.«
Dominic faltete seufzend die Hände.
Etwas stimmte nicht. Audrey lehnte sich zurück. »Sie wirken unzufrieden.«
Dominic verzog das Gesicht. »Ich schaue Sie an und bin irritiert. Die Besten in unserem Berufszweig sind eher unauffällig, sehen aus wie der Durchschnitt, man hat sie schnell wieder vergessen, sodass die Verdächtigen sie gar nicht erst beachten. Diese Leute haben Erfahrung mit Polizeiarbeit und waren wenigstens auf dem College. Sie dagegen sind zu hübsch, Ihre Haare sind zu rot, Ihre Augen zu groß, Sie lachen zu laut, und wenn man Ihren Zeugnissen Glauben schenkt, haben Sie gerade mal die Highschool hinter sich.«
In ihrem Kopf schrillten Alarmsirenen. Bevor Dominic sie einstellte, wollte er ihr Abgangszeugnis sehen, also hatte sie ihm sowohl ihr Diplom als auch das Zeugnis ihres letzten Jahres auf der Highschool vorgelegt. Aus irgendeinem Grund hatte er sich ihre Akte vorgenommen und sich deren Inhalt noch mal genauer angesehen. Ihr
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