Bis ans Ende der Welt
Das letzte Stück führte an gigantischen Stränden, die man über gepflegte Holzstege erreichen konnte, und an kleinen Restaurants vorbei. An diesem Strand mochte der litauische Junge nach der mythischen Muschel für seine Großmutter tauchen, bestimmt würde er welche finden. Auch wenn solche vom Ozean bestürmte Küsten recht tückisch sein können. Es war mir allerdings ein Rätsel, warum ich damals, als ich hier mit dem Auto unterwegs war, nichts von diesem gigantischen Strand bemerkte, beziehungsweise, warum mir dieser schöne Anblick nicht im Gedächtnis blieb. Schon marschierte ich durch die ersten Straßen des Finisterre. Einst ein Kaff, auf dessen Straßen sorglos die Hunde im Staub schliefen, heute eine richtige kleine Stadt mit einem romantischen Hafen und allem, was zu einem attraktiven Touristenzentrum gehört. Die aufsässigen Galicier nennen es Fistera . Alles heißen sie keltisch, alles beschmieren sie mit Aufrufen nach Unabhängigkeit, penetrant, besessen und wohl vergessend, daß sie ohne die schnöden Spanier heute wohl arabisch sprechen würden. Vielleicht werden sie es auch bald tun, Mauren sind wieder in Scharen nach Europa unterwegs und vermutlich nicht mehr aufzuhalten. Sie werden vor den Galicien nicht haltmachen, wie sie es im achten Jahrhundert auch nicht taten. Was mir eigentlich gleich sein konnte. Über die Geschicke Galiciens hatte ich keine Gewalt. Vielmehr galt es, mich um die Übernachtung zu kümmern. Das war mein täglich Brot. Ob in der Herberge noch freie Plätze sein würden? Es war in Spanien immer spannend, bis zum letzten Augenblick. In Fenstern priesen Schilder private Appartements an, fast wäre ich da schwach geworden. Doch marschierte ich immer weiter, bis ich im Stadtzentrum auf Anhieb die Herberge fand. Und dort das letzte freie Bett belegte. Es war eine große Herberge, ein ziemlich großes mehrstöckiges Haus. Das letzte vorhandene Bett zu bekommen, war somit ein echtes Kunststück. Zwei vor mir laufende Frauen kamen vor dem Eingang noch hart ins Schwatzen und vertaten ihre Chance. Vielleicht half der Herr wieder nach. Wie üblich, wenn Not am Mann war. Mich wunderte es nicht, ich sagte nur „Vergelt’s Gott!“ Es gab stets Widrigkeiten genug, und es war nur gut zu wissen, daß alles ein gutes Ende finden wird. Man durfte nur nicht kleinmütig werden. Kleinmut ist eine Sünde. Anscheinend eine läßliche, weil der Herr stets gütig blieb, wenn er mich dabei erwischte. Und es schien ihm immer Freude zu machen, mir das Gegenteil meiner erbärmlichen Befürchtungen zu beweisen. Deshalb bete ich: „Herr, vergib mir meine Kleinmut, gib mir Hoffnung und Zuversicht.“ Du fühlst dich sicher, weil noch Hoffnung ist; geborgen bist du, du kannst in Ruhe schlafen. [84]
Das konnte ich nun in der Tat. Soweit es in einer spanischen Pilgerherberge eben möglich ist. Die Formel für eine solche heißt schließlich: Zu viele Betten auf zu wenige Toiletten auf kleinstem Raum, gewürzt mit Schnarchern und Wanzen. Aber das stand noch überhaupt nicht an. Was anstand, war der Weg zum Leuchtturm am Kap, bevor die Sonne untergeht. Der letzte Gang. Alles scharrte schon mit den Hufen in den Startlöchern, um das ultimative Ereignis, sprich den Sonnenuntergang, nicht zu versäumen. Ich ging mit Simon und noch jemanden. Die Straße dorthin, die bei meinem letzten Besuch in den siebziger Jahren noch eine staubige, steinige Piste war, hatte man inzwischen großzügig ausgebaut, und nun flitzten Autos hin und her an den eilenden, eifrig schwatzenden Pilgern vorbei. Dazwischen auch die aufgekratzte Dorfjugend auf Mofas und Motorrädern. Eigentlich herrschte überall eine aufgelegte, begierige Stimmung, als ob wir alle zu einem Dorftanzabend unterwegs wären. Ganz im Gegensatz zum Einzug nach Compostela, wo alles ernst und gesammelt blieb. Fremde sprachen sich an, Lachen stieg auf und verstummte, alle marschierten frisch und munter gegen den Berg. Es müssen Hunderte gewesen sein. Alle in guter Form, wie es mir schien. Das Tempo war, der fortgeschrittenen Tageszeit entsprechend, deutlich über dem meinigen. Schließlich kamen die meisten von ihnen mit dem Bus aus Santiago her und waren gut ausgeruht. Aber ich hatte nichts mehr zu verlieren, es war das letzte Stück des langen Marsches, ich mußte mich nicht mehr schonen. So marschierte ich tüchtig mit und hielt die Klappe. Oben am Leuchtturm, dreihundert Meter über dem Meer, wußte ich den Grund. So weit das Auge reichte, breitete sich der
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