Bis ans Ende der Welt
Trübe, grau, windig, kalt. Der Weg führte in die Berge. Ein Fluß mußte auf großen Steinen durchquert werden, weil die Brücke vom Hochwasser eingerissen wurde. Über der Bergwand schnitten Windräder den Wind und Nebel in dicke Scheiben. Es ging auf und ab auf gepflegten steinigen Pfaden. Ich kämpfte mich zähe voran. Die Krankheit war tatsächlich fast schon überwunden, aber ich war auch so schon ziemlich am Ende meiner Kräfte. Man konnte ja nirgends ein paar Tage bleiben, um aufzutanken, Tag für Tag war man auf den Beinen, konnte am Ende nichts mehr wahrnehmen, keinen vernünftigen Gedanken fassen. Ich wußte nicht mehr, wo ich das letzte Mal einen Tag Pause gemacht hätte. In Burgos, in León? Die Krankheit wollte ich gar nicht mitzählen. Das Pilgern sollte doch Freude sein, rein, erhebend, und nicht trübe, kalt und windig wie das Wetter hier. Hier ging ich nun durch eine wunderschöne Landschaft und hatte keine Freude dran, weil mir jeder Schritt Mühe bereitete, die Rucksackriemen wie Messer in die Schulter schnitten, die Füße taub wie Watte waren, und die Finger sich vor Krämpfen krümmten. Und dann erklomm ich einen Hügel, passierte ein Kreuz, und vor mir erstrahlte plötzlich das Meer, hellblau wie von einer kitschigen Postkarte, mit weißen Stränden und mediterraner Vegetation ringsum. Wo sind die grauen Wolken geblieben? Der schneidige kalte Wind? Alles wie weggeblasen, wie mit dem Zauberstab weggefegt. Wie konnte ein griesgrämiger mitteleuropäischer Herbst so schlagartig zu Côte Azur umschlagen? Egal. Ich bin am Atlantik angelangt. Gerne hätte ich diesen Anblick mit jemandem geteilt, mit Rachel etwa. Doch Rachel habe ich längst irgendwo unterwegs verloren. Sie war ja eine gestandene Person, die das Alleinsein vertrug. Und sie schien mir froh zu sein, einfach im eigenen Tempo ohne viel Reden die restliche Strecke zu passieren, statt sich nach mir zu richten. Es war einfach nicht die passende Zeit, nicht der passende Ort für galante Gespräche.
Dann ging es bergab zum Meer, was freilich noch eine ganze Weile dauerte. Auch hatte man sich wieder mit der Zivilisation, beziehungsweise mit ihrer häßlichen Kehrseite, auseinanderzusetzen, abzufinden. Aber das blaue Meer stand überall dahinter und machte alles, ja sogar die Autos, irgendwie resch und erträglich. Ich konnte den Regenponcho ausziehen und mich meines kurzen Beinkleids freuen. Ich war wieder passend angezogen. Die Reste der Krankheit bröckelten ab von mir. Cee, die letzte Stadt vor dem Ziel, war plötzlich da. Mit breiten Straßen, einer Strandpromenade und einem luxuriösen französischen Einkaufszentrum, wo ich euphorisch alle möglichen Leckereien einkaufte und eine ganze Reihe davon sogleich auf einer Bank der Seepromenade mit großem Appetit aß. Das Panorama diente mir als Nachspeise. Simon kam vorbei, hielt sich aber nicht lange mit mir auf. Es zog ihn über den letzten Berg nach Finisterre. Unaufhaltsam zog es ihn. Nicht einmal meine Leckereien konnten ihn aufhalten. Ich aber wollte diesen Augenblick genießen. Ahnte ich doch, daß so eine Gelegenheit, auf einer einsamen Bank vor der blauen Bucht zu faulenzen, nicht so schnell wiederkommt. Ich bedauerte, mit dem Rauchen aufgehört zu haben, denn um wieviel köstlicher wäre der Augenblick in einer würzigen Duftwolke aus feinstem englischen Pfeifentabak. Ich konnte es fast schon riechen. Das Rauchen war für mich freilich längst passé , eine bloße Erinnerung an längst vergangene Zeiten und Sünden, doch in außerordentlichen Situationen wie dieser brach das Verlangen plötzlich mit bemerkenswerter Intensität auf. Was mir keine Probleme bereitete, denn ich wurde nicht rückfällig. Aber etwas mußte ich da tun, und ich zog die Stiefel und alle überflüssige Kleidung aus und ließ mich von der milden Sonne streicheln, die sich seit dem Bierzo nur sporadisch zeigte und dann meist nur lästig war.
Dann ging es weiter, wie üblich. Der Fluß hat zu fließen. Nur der letzte Berg stand noch zwischen mir und dem Ziel. Ich ging, schwitzend und klagend über den Sonnenbrand, den ich mir während der Pause holte. Nicht zu sehr, ich wußte, daß das Leiden nur kurz sein wird. Schon ging es steil hinunter zur Küstenstraße und einem fast kitschigen breiten Strand darunter, an dem sich die Kraft der langen atlantischen Wellen brach. Ein Ausflugsrestaurant stand bereit. Alles wie im Sommer, nur die Hauptreisezeit war vorbei und die Sommergäste weg. Die Ruhe der Nachsaison.
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