Bis ans Ende der Welt - Oskar und Mathilda ; 2
Innenkanten ihrer Sandalen zu zwei Haufen zusammen, nahm sie vom Boden auf und stopfte sie sich rechts und links in die Taschen ihrer Shorts. Sie verzog das Gesicht, denn das Zeug juckte fürchterlich, aber genau das war schließlich auch der Sinn der Sache.
So gut es ging, wischte sie sich die Handflächen im Gras sauber, dann schnappte sie sich den Terrier, hob ihn auf ihren Arm und lief quer über eine große Wiese auf den Wald zu.
Mit jedem Schritt klopfte ihr Herz schneller. Und ihre Beine waren mittlerweile puddingweich. Es war ein reines Wunder, dass Mathilda überhaupt noch darauf laufen konnte.
Um nicht durchzudrehen, fing sie an zu zählen. Nach jeder Zahl, die durch drei teilbar war, machte sie eine kleine Pause. Sie konzentrierte sich auf Oskar und das gab ihr ein Gefühl von Stärke. Oskar war der beste Freund der Welt. Wenn ihm etwas zustieß, würde Mathilda ihres Lebens nicht mehr froh werden.
Bei zweihundertdreiundvierzig kam sie am Holzstapel an. Mathilda umrundete ihn und trat, ohne zu zögern, in den Wald hinein.
Der Duft von vertrockneten Tannennadeln stieg ihr in die Nase und ein bisschen erdig roch es auch. Horst fest an ihre Brust gepresst, ging sie langsam weiter. Am Rand war der Wald noch licht, doch je tiefer Mathilda in ihn vordrang, desto enger standen die Bäume beieinander und umso dunk-lerwurde es. Bei jedem Knacken zuckte sie zusammen und immer wieder blieb sie stehen und blickte sich um.
Der Boden war von wadenhohen, gelb blühenden Büscheln überwuchert. Dazwischen trat Mathilda auf Moos, Baumwurzeln oder welkes Laub.
Fieberhaft dachte sie darüber nach, ob der Empfänger, der sich im Besitz der Erpresser befand, wohl anzeigte, dass der Sender sich ihm näherte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie gerade noch einen dunkelgrünen Wagen, der rechts von ihr zwischen den Bäumen auf einer Anhöhe stand, da packte sie plötzlich jemand von hinten. Er umschlang ihre Taille, presste ihr eine Hand auf den Mund, sodass sie nicht einmal mehr aufschreien konnte, und schleifte sie rückwärts mit sich fort.
Oskar hatte lange mit seinem Vater auf einer kleinen Lichtung hoch über dem Tal zusammengesessen. Hin und wieder hatten sie ein Würstchen oder ein Stück Kuchen gegessen und schweigend in den Wald hinuntergeblickt, aber die meiste Zeit hatten sie geredet.
Manfred Habermick hatte erzählt, wie ihm plötzlich, von einem Tag auf den anderen, all seine Kraft abhandengekommen war und dass es ihm nun endlich nach vielen Wochen in der
Auszeit
allmählich besser ging.
Oskar hatte eine Menge von Mathilda erzählt, von Opa Heinrichen und davon, dass es ihm in Vielendorf richtig gut gefiel.
»Na, dann war es doch eigentlich gut, dass ich davongelaufen bin«, meinte sein Vater. »Sonst hättest du Mathilda und Opa Heinrichen ja nie kennengelernt.«
Oskar nickte. Das Leben war schon irgendwie seltsam. Da hielt es zwischen all den schweren Schicksalsschlägen wundervolle Geschenke und Überraschungen für einen bereit!
»Willst du dir unser neues Zuhause nicht mal ansehen?«, fragte er.
Manfred Habermick seufzte leise. »Ja, vielleicht. Wenn Mama damit einverstanden ist. Weißt du, sie mag unberechenbare Dinge nicht besonders. Und sie probiert auch nicht gern etwas Neues aus.«
»Das stimmt nicht, Papa«, widersprach Oskar. »Es war
ihre
Idee wegzuziehen. Mittlerweile hat sie eine Arbeit und verdient genug Geld für uns alle. Und Mofafahren kann sie auch«, fügte er eifrig hinzu, und es klang fast so, als müsse es dagegen geradezu ein Klacks sein, einen verloren gegangenen Ehemann wieder bei sich aufzunehmen.
Manfred Habermick wuschelte seinem Sohn durch die Haare. »Wir werden sehen«, erwiderte er. »Ich bin jedenfalls sehr froh, dass du hergekommen bist. Und jetzt möchte ich endlich deine Freundin kennenlernen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und weitete erschrocken die Augen.»Oje, schon so spät!«, rief er. »Bestimmt vermissen Mathilda und ihre Eltern dich bereits.«
»Wie viel Uhr ist es denn?«, fragte Oskar.
»Fast halb zwölf«, sagte sein Vater.
Rasch packten sie die Proviantreste in den Korb, falteten die Decke zusammen und machten sich auf den Rückweg.
Manfred Habermick kannte den Wald wie seine Westentasche. Obwohl es keine richtigen Wege, sondern nur ein paar schmale, ausgetretene Pfade gab, die immer wieder zuwuchsen, fand er sich bestens zurecht.
»In Vielendorf ist es ganz anders«, sagte Oskar, der vor seinem Vater herlief. »Da gibt es keine
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