Bis ans Ende der Welt
Kristine bedankte sich höflich, hätte aber am liebsten geflucht. In Melbourne, bei Miriam? Großartig! Sie ging zurück zur Strandpromenade und sah sich nach einem Telefon um.
Sie fuhren mit der Straßenbahn - wieder zwei Dollar futsch - nach St. Kilda, wo Ralf sofort zum Meer wollte. Er hatte eine Badehose mitgenommen, Miriam nicht.
»Zum Schwimmen ist es zu kalt, wir haben erst Frühling.«
»Zu kalt? So heiß, wie es hier die ganze Zeit ist?«
Tatsächlich war am Strand kaum jemand zu sehen, und niemand ging schwimmen, wie Miriam gesagt hatte. Das Leben spielte sich auf der Promenade ab und auf der Straße dahinter. Sie war voller Geschäfte, teils in alten viktorianischen Prachtbauten, teils in daneben gestellten Holzbuden. Zuckerbäckereien, Feinkostläden, Cafés, Läden für alternativen Schmuck, für Lederwaren, Kleidung und dänische Eiscreme. In den Seitenstraßen waren Nachtclubs und eine Diskothek versteckt.
In der Aclandstreet drang unwiderstehlicher Duft in Ralfs Nase: Fish and Chips. In einem Laden mit hellblauen Kacheln und glitschig glotzendem Fisch auf Eis suchte er sich ein beinahe meterlanges Exemplar aus. Die dickliche, rotgesichtige Frau nahm ein Messer - fast ein Schwert - und hatte den Riesenfisch in Sekunden filetiert, paniert und eine Hälfte in die Friteuse gesteckt. Der überdimensionalen Packung gab sie reichlich Pommes frites bei und wollte für das ganze Paket nur fünf Dollar. Stolz auf das gute Geschäft, verließ Ralf den Laden, das Fresspaket fest in den Händen.
Am Strand setzten sie sich auf eine Bank und beobachteten Fußgänger auf der Promenade, die laufend von Skatern, Joggern und Fahrradfahrern überholt wurden.
Als Ralf den Fisch auspackte, schüttelte Miriam den Kopf. »Wie willst du diese Riesenportion essen? Das schaffen wir nicht mal zu zweit.«
Miriam hatte ja keine Ahnung - Ralf legte los, jaulte nur ein paar Mal auf, als er den heißen Fisch zu lange in der Hand hielt, um dann sofort wieder zuzugreifen.
Miriam lachte. »Du isst, als ob es ein Zeitlimit gäbe.«
Ralf machte Pause und hielt ihr die Tüte hin.
Miriam nahm ein Eckchen Fisch und zwei Pommes. »Sag mal, warum wirst du eigentlich nicht dick? Ich muss vor jedem Stück Kuchen mein Gewissen befragen und du stopfst alles in dich rein wie Wäsche in die Waschmaschine.«
Nachdem sie von der Bank an den Strand umgezogen waren, wollte Ralf wissen, warum es keine Wellenreiter gebe. Miriam sah ihn an und grinste.
»Siehst du hier irgendwo Wellen, Dummie?«
Wenn er genau hinsah, gab es tatsächlich keine Wellen. Gemächlich umspülte das Wasser den Strand, allenfalls Barbiepuppen hätten darauf surfen können.
»Wo sind die Wellen?«
»Die Port Phillip Bucht hat eine sehr schmale Passage zum Ozean. Wellen gibt’s nur bei Sturm.«
Schön, aber jetzt wollte Ralf ins Wasser, denn kalt sah das beim besten Willen nicht aus und hier schien sowieso pausenlos die Sonne. Er zog die Badehose an und ging ein paar Meter rein. Hm, es war doch recht frisch. Aber umkehren war nicht drin. Ralf ging weiter, die Barbiewellen erreichten seine Oberschenkel, es war saukalt. Während er ausharrte und versuchte, sich langsam an die Temperatur zu gewöhnen, hörte er von hinten ein Plätschern.
Miriam schwamm an ihm vorbei und fragte: »Was ist jetzt? Komm schon.«
War sie nackt? Ralf hatte es nicht genau erkannt, aber viel hatte sie nicht an. Er gab sich einen Ruck, schwamm hinterher und fragte sich, was Kristine wohl dazu sagen würde.
Nach ein paar Metern kam Miriam mit merkwürdigem Gesicht angeschwommen. Sie streckte den Arm nach ihm aus, lächelte irgendwie komisch und legte ihre Hand auf seine Schulter. Was war denn jetzt - würde sie ihn umarmen und küssen?
Sie umarmte ihn nicht, sondern stützte sich auf und - he - drückte ihn unter Wasser. Das Letzte, was Ralf sah, bevor er unterging, waren ein Paar bildschöne Brüste - nur zehn, fünfzehn Zentimeter entfernt. Er hatte gerade noch nach Luft geschnappt.
Das Meer rauschte und brodelte - oder war das in seinem Kopf? Ralf fühlte sich mega-dämlich: Er hatte sich von dieser Schlange tauchen lassen. Nie war einem Mädchen im Freibad das gelungen, nie, und nur wenigen Jungs. Wieder an der Oberfläche, sah er sich um: Miriam schwamm kichernd fünf Meter weiter draußen.
Als Ralf die Verfolgung aufnahm, warnte sie: »Bleib lieber weg. Ich muss mal.«
Wirklich? Oder war das ein Trick?
Sie hörte auf zu kichern und verscheuchte ihn mit einer Handbewegung.
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