Bis du erwachst
damit zu, Verkaufszahlen von Produkten zu prüfen, die ihn nicht im Mindesten interessierten (weder die Zahlen noch die Produkte), und alle viereinhalb Minuten auf die Uhr in seinem Computer zu schauen, die ihm regelmäßig verkündete, dass es noch viel zu lange hin war, bis er in seine Wohnung zurückdurfte, die er im Übrigen auch hasste. Er hatte nämlich die lautesten Nachbarn der Welt. Als Michael also Richtung Bushaltestelle ging, war sein Herz schwer. Es konnte nicht so weitergehen, er war immerhin schon 31 Jahre alt! Er war ein Schlappschwanz, nicht der Mann, der er gern sein wollte. Die anderen hatten offenbar kein Problem damit, Großartiges zu vollbringen, große Ziele zu erreichen, doch er brachte es irgendwie zu nichts. Jeder – seine Familie, der Chef, seine Kumpel – schien von ihm etwas Spezielles zu erwarten. Aber er war kein dressierter Seehund, er wollte einfach nur losziehen und die Dinge auf seine Weise regeln. Nicht dass er seiner Familie nicht gern geholfen hätte. Im Gegenteil, er fühlte sich nützlich, wenn er seiner Mutter zur Hand gehen oder für seine Schwester und die Kinder etwas im Haushalt reparieren konnte. Er wollte manchmal einfach nur ein bisschen Ruhe von dem schlechten
Gefühl
, damit er sich endlich auf seine vielen Pläne konzentrieren konnte.
Wie üblich stieg er in den Doppeldeckerbus, halb in der Hoffnung, die junge Frau wiederzusehen, die ihm vor kurzem aufgefallen war.
Normalerweise las er im Bus die letzten Seiten der
Metro
– eine gute Strategie, um den ganzen Irrsinn um sich herum auszublenden. Aber an diesem Tag hatte er keine Zeitung dabeigehabt, und als er aufblickte, sah er plötzlich eine unglaublich attraktive junge Frau, mit den vollsten Lippen, die er je gesehen hatte. Sie saß im hinteren Teil des Busses und lächelte in seine Richtung. Ihre Augen waren grün. Aber nicht einfach von irgendeinem Grün, sondern von einem Wahnsinnsgrün. Zusammen mit ihrer dunklen Gesichtsfarbe wirkten sie noch eindrucksvoller. Er konnte trotz des weiten Mantels, den sie trug, sehen, dass sie schlank, aber nicht dünn war. Sie war bunt und ausgefallen gekleidet, und ein bunter Haarreif hielt ihr üppiges krauses Haar zurück.
Vermutlich war es ganz gut, dass sie seinem Blick dann auswich, denn er verlor plötzlich jeden Rest Selbstvertrauen. Er hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen, aber er brachte einfach nicht den Mut auf, sie anzusprechen. Sie würde sich sowieso nicht für ihn interessieren. Frauen, hieß es, liebten Geld, Macht und Selbstvertrauen, und Michael wusste leider nur zu gut, dass er von alledem nichts besaß. Und trotzdem: Aus unerfindlichen Gründen hatte er nie viel Mühe gehabt, eine Frau kennenzulernen.
Zum Beispiel Jen.
Die schöne, sexy Jen. Herrlich fließendes Haar und unglaublich wohlgeformte Schenkel. Er hatte Jen vor dem Supermarkt kennengelernt. Irgendein muskulöser Kerl bedrängte sie. Sie sollte ihm ihre Telefonnummer geben, obwohl sie die Augen verdrehte und ostentativ auf die Uhr sah. Ohne nachzudenken, platzte Michael laut heraus: «Schatz, da bist du ja. Beeil dich, sonst nehmen die Kinder noch den Mercedes auseinander!», und hielt ihr dieHand hin. Sie ergriff sie mit einem etwas gezwungenen Lächeln im Gesicht. Schließlich konnte sie nicht wissen, ob er nicht womöglich noch schlimmer war als der Kerl, dem sie gerade zu entkommen versuchte. Dennoch riskierte sie es mit ihm.
«Du warst meine Rettung», hatte sie an jenem Abend beim Essen zu ihm gesagt. Anfangs waren sie nur Freunde gewesen, doch eines Abends küssten sie sich, und ihre Beziehung überschritt die Grenzen des rein Platonischen. Michael begann sich zu wünschen, sie wären einfach Freunde geblieben, als Jen anzudeuten begann, dass sie für eine richtige Beziehung bereit sei. Eine Weile sonnte er sich einfach in der Vorstellung, dass diese schöne junge Frau ihn haben wollte, doch bald übermannte ihn die Furcht. Schließlich konnte in absehbarer Zeit nichts «Ernstes» aus ihrer Beziehung werden. Was hatte er ihr schon zu bieten?
Als er jetzt im Bus saß, beschloss Michael, einen kleinen Umweg über Camberwell zu machen und bei Jen vorbeizuschauen. Die Frau mit den grünen Augen hatte ihn aufgewühlt, denn es kam sehr selten vor, dass er Jen von der Arbeit anrief und fragte, ob er bei ihr vorbeikommen könnte. Normalerweise rief Jen bei ihm an und sagte ihm, wie sehr sie ihn brauchte.
Er klingelte, und wie immer wartete Jen schon an der Tür auf ihn, als
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